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Technologie > Casestudy Kärcher

Mit Hochdruck in die Cloud

Der Mittelstand zögert, sich der Datenwolke anzuvertrauen. Der Reinigungsgerätehersteller Kärcher zeigt, dass Mut belohnt wird.

Spaziergang mit Reinigungsroboter: Kärcher-Chef Hartmut Jenner begleitet den Vollautomaten Kira durch eine Produktionshalle.Bildquelle: © picture alliance/dpa | Marijan Murat

Hochdruckreiniger und Kehrmaschinen sind wohl so ziemlich das Letzte, was man auf Anhieb mit den Begriffen Cloud-Computing, künstlicher Intelligenz und Maschinenlernen in Verbindung bringt. Wasser rein, Pistole oder Bürste auf den Dreck draufhalten, fertig. Doch der deutsche Mittelständler Kärcher hat einfach weitergedacht. Der Umsatz hat sich in der Folge verdoppelt, das Unternehmen expandierte binnen zehn Jahren in mehr als 70 Länder. Für 2024 steht der nächste große Schritt an.

Leonhard Kerscher, Vice President IT & Digitale Transformation bei Kärcher, hat ganz klein angefangen. 2012 kam ein erster Account der neuen Cloud-Tochter AWS von Amazon ins Haus. Der Vorstand habe das Ganze von Beginn an unterstützt, sagt Kerscher. Und dann mal sehen. Das Einsatzgebiet war eher experimentell und wenig spektakulär. Die IT-Abteilung brachte kleinere, nicht SAP-gebundene, Aufgaben in die Datenwolke.
Kerschers Ziele waren die Unternehmensklassiker: Zeit sparen, Geld sparen, Personal ­sparen. Lernen, was überhaupt geht. „Um ein Cloud-Mindset zu bekommen“, sagt er auf der Cloud-Messe AWS:reinvent in Las Vegas, müsse man „einfach in die Materie eintauchen“. Geduld sei nötig. Man müsse auch nicht von Anfang an eine „perfekte Strategie für das Gesamtunternehmen“ fertig haben, sagt Kerscher.

Als die IT-Abteilung des Familienunternehmens 2014 genügend Erfahrung gesammelt hatte, begannen auch die operativen Einheiten langsam aufzuspringen. IT-Fachkräfte waren schon damals Mangelware und es war in der bestehenden SAP-Umgebung schlicht unmöglich, schnell etwas auszuprobieren. Die Cloud eröffnete neue Optionen, flexibel zu arbeiten und Dinge zu testen. Natürlich kostet die Umstellung Geld. Aber langfristig sei ein Einsparpotenzial von 20 Prozent realistisch, hätten hausinterne Berechnungen ergeben, sagt der IT-Chef.

Bis 2016 nutzte Kärcher nur den einen AWS-Account. Heute sind es mehr als 200, zentral gesteuert. In nur wenigen Stunden seien neue Arbeitsumgebungen aufgesetzt, einschließlich Kostenmanagement, sagt Kerscher. Es gebe für die Auslandsoperationen viele Freiheiten, aber auch Kontrolle. Mal eben einen Stützpunkt in Melbourne aufzubauen, könne eine Mittelstands-IT ohne Cloud mit klassischen Mitteln praktisch nicht erbringen. Mit der alten Zentralsteuerung hakte die Kommunikation, es gab, Verzögerungen und Abstimmungsschwierigkeiten.

170 Terabyte Daten hochgeladen

Mittlerweile sind alle Nicht-SAP-Anwendungen in die Cloud übertragen. Umgewandelt wurden rund 100 Anwendungen, 140 Server und 70 Datenbanken mit zusammen 170 Terabyte Daten. „Rückblickend wären wir ohne die Cloud-Umgebung mit den Unternehmensumstellungen gescheitert“, sagt Kerscher. „Für all diese Aktivitäten kann ein Mittelständler überhaupt nicht schnell genug eine eigene IT-Infrastruktur bereitstellen.“ 
Für 2024 ist der vorerst letzte große Schritt geplant. SAP wird in die Cloud überführt. Ein völliger Abschied sei nach 20 Jahren schlicht nicht realistisch. Erste produktive Systeme seien bereits überführt worden. Der gesamte Umzug soll Ende 2024 abgeschlossen sein. Natürlich ist SAP in der Cloud nur eine Hilfskonstruktion. Aber „Testmigrationen, Kopien ziehen, wieder abschalten, so was geht alles schneller in der Cloud“, sagt Kerscher. Und das zu „einigermaßen attraktiven finanziellen Konditionen“. Die Nutzung und Auswertung von Daten sei jetzt deutlich schneller.

Das 1935 gegründete Familienunternehmen aus Winnenden bei Stuttgart brachte 1950 den ersten Hochdruckreiniger auf den Markt. Historisch gesehen hatte das Wachstum bei Kärcher richtig Fahrt aufgenommen, als in den 1980er-Jahren mobile Geräte für Heimanwender in den Baumärkten auftauchten. Kärchern wurde zum Synonym für gründliches Saubermachen. Heute beschäftigt Kärcher rund 15.500 Mitarbeitende weltweit und produziert auch außerhalb Deutschlands. Der Umsatz, je zur Hälfte im Business- und Heimanwendermarkt erzielt, wurde in zehn Jahren auf rund 3,3 Milliarden Euro verdoppelt. „Das schnelle Wachstum hätten wir ohne Cloud gar nicht bewältigt“, sagt Kerscher rückblickend.

Die Expansion in den Hightechbereich hatte Tücken. Der erste Robotik-Versuch geriet zum Flop. Der Robo-Staubsauger RC 3000 Anfang der 2000er-Jahre rumpelte eher planlos durch die Zimmer, bis er irgendwo nicht mehr weiterkam und umdrehte. Die Kunden waren wenig beeindruckt. „Es fehlte einfach die Vernetzung“, sagt Kerscher heute. Und das Gerät war zu teuer. Erst von 2013 an wurden die Profigeräte vernetzt, 2014 kam eine eigene Mobile-App zur Steuerung dazu. Auch diese Angebote waren teurer, „aber die Kunden haben gekauft“. Es gab tatsächlich einen Markt für Kärcher. 2017 erschien die zweite Generation der Robotersauger.

Inzwischen aber läuft es. Kärcher habe sich zu einem softwaregetriebenen Unternehmen weiterentwickelt. Webshops und die weltweit mittlerweile rund 1000 eigenen Premiumläden werden über die Cloud gesteuert. Anwendungsempfehlungen oder Serviceeinstellungen werden online auf den Reiniger übertragen. Ob für Holzböden oder Zementböden, der richtige Reinigungsdruck wird festgestellt und übermittelt, ein Reinigungsmittel empfohlen, bei Profigeräten sogar eine Temperatur. Die Reinigerpistole bekommt automatisch den empfohlenen Druck zugewiesen, der auch auf einem Display angezeigt wird. Vorbei die Zeiten, in denen ungeübte Anwender versehentlich mit vollem Druck Fugen leerten oder Farben entfernten.
Die Cloud sei generell gerade für den Mittelstand eine essenzielle Hilfe, um Innovation zu erreichen, Arbeitsweisen neu zu denken und flexibler zu werden, sagt Kerscher. Geräte „bauen, verkaufen, vergessen“, das gehe einfach nicht mehr. Im Moment wird künstliche Intelligenz immer stärker erforscht und eingesetzt, vor allem im Profibereich. 

Die aktuelle Serie der Kira-Reinigungsmaschinen für den kommerziellen Bereich bietet auch vollständig autonomen Reinigungsbetrieb etwa für Industriehallen oder Flughafenterminals an. Die Roboter umfahren Hindernisse, stoppen für Fußgänger oder Fahrzeuge, steuern eigenständig Lade- oder Entladestationen an. Die Geräte fordern eine Wartung an, bevor sie ausfallen. Und auch Gabelstapler können ihnen nichts mehr anhaben. Kira erkennt die nur wenige Zentimeter dicken Stahlzinken an den Staplern, die oft recht zügig durch Hallen kurven, absolut zuverlässig und kann ihnen rechtzeitig ausweichen. Sonst droht Totalausfall. „Da ist bei Kira richtig viel Entwicklung in die künstliche Intelligenz reingeflossen“, sagt Kerscher. Denn eines ist klar: Im Machtkampf mit einem Gabelstapler zieht jeder Kira regelmäßig den Kürzeren. 
 

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