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Debatte > Zum Tod von Franz Beckenbauer

Der Gefühle-Lieferant

Kaum ein Deutscher war beliebter in der Welt, daheim konnte er sich scheinbar alles erlauben. Eine kritische Hommage an „den letzten Kaiser“, dessen Aufstieg und Fall so viel über uns selbst preisgibt.

Franz Beckenbauer und Bundestrainer Helmut Schön laufen jubelnd nach dem Schlusspfiff des gewonnenen WM-Finals von 1974 über das Spielfeld.

Niemand ist so schlecht wie sein Ruf. Und niemand ist so gut wie sein Nachruf. Aber bei Franz Beckenbauer funktioniert diese Gleichung nicht. Beim ihm stimmt jedes Extrem: So genial wie gerissen, so erfolgreich wie egozentrisch. Der „Kaiser“ emotionalisiert dieses Land als lebender Widerspruch. Geliebt, gehasst, nicht viel dazwischen.

Viele Jahre meines Lebens war ich Franz Beckenbauer schlichtweg dankbar: Dass er „meinen“ Club, den FC Bayern, zu dem gemacht hat, was er ist. Für den Gewinn des WM-Titel 1990. Für das Sommermärchen 2006. Doch in vielen dieser Jahre war ich auch immer wieder maßlos enttäuscht von ihm. Ein ewiges Hin und Her. Dennoch sagte ich meiner Tochter eben, als wir Nachrichten guckten und sie mich nach diesem Franz fragte, dass er für mich eines der größten Vorbilder war – doch dazu später mehr.

Ich war knapp 40 Jahre meines Lebens Torwart, in der Jugend auf professionalem Niveau, zum Schluss in der Kreisklasse. Ich spielte auf Aschenplätzen im Sauerland und in Bundesliga-Stadien. Und ich spielte am liebsten hinter einem Libero. Bei all der Logik, die für eine Viererkette sprach, keinen anderen Mitspieler konnte ich so innig lieben und hassen wir meinen „letzten Mann“. Kein Wunder, dass ich schon früh für den berühmtesten Libero aller Zeiten schwärmte – auch wenn ich Beckenbauer als 1980-Geborener nur im Fernsehen spielen sah.

Beckenbauer ist für mich die Figur, die die beste Zeit der Bundesrepublik verkörpert. Im September 1945, direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, wurde er zur BRD-Erfolgsgeschichte, zum emotionalen Wunder, denn das verstockte Land genauso gut gebrauchen konnte wie das Wirtschaftswunder. Lebensfroh und weltoffen – das paarte sich allzu gut zum Fleiß und Talent. Jahrzehntelang spiegelten sich die Deutschen so gern in Beckenbauer. Für seine Lebensgefährtin Diana Sandmann verließ er Mitte der 19780er Frau Brigitte und drei Kinder. Dazu ein uneheliches Kind, Steuerprobleme – die Medien und die Öffentlichkeit gestatteten ihm scheinbar alles. Der Libero, der freie Mann, der weltweit beliebteste Deutsche durfte zu viel.

Die Unangreifbarkeit nahm er mit in sein neues Leben als WM-Organisator: Die Treffen mit Königen, Staatsoberhäuptern und vor allem den Fifa-Funktionären waren für sein Unrechtsbewusstsein endgültig zu viel. 2015, Beckenbauers anno horribilis, flog vieles auf – fast zeitgleich mit einem privaten Schicksalsschlag: Sein damals 46-jährigen Sohn Stefan starb. Der „Spiegel“ schrieb von Schwarzen Kassen rund um die WM 2006. Von dem öffentlichen Aufschrei und den juristischen Verfahren sollte sich Beckenbauer nie erholen. Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Die Gesundheit machte ihm immer mehr zu schaffen.

Je höher der Druck war, desto lässiger spielte Franz Beckenbauer. Je lauter die gegnerischen Fans pfiffen, umso breiter wurde sein Grinsen. Je größer die Herausforderung, desto willensstärker ging er die Sache an. „Was erlauben Struuuuntz?“, ätzte einst Bayern-Trainer Giovanni Trapattoni. Beckenbauer war damals übrigens Präsident des Rekordmeisters. „Was erlauben Franz?“ ist die Frage, die von ihm bleiben wird. Dieser geniale und durchsetzungsstarke Mensch bekam es allem Anschein nach nicht hin, die Grenzen des moralisch Tragbaren zu erkennen, teilweise auch des Erlaubten. Aus willensstark wurde unverfroren, diese Tragik hat er nicht exklusiv. Warum er sich jahrzehntelang alles erlauben konnte: auf dem Platz, als Trainer, als Präsident und auch als Funktionär? Weil er Erfolg hatte.

Was sagt das es über uns aus, dass wir ihm all das durchgehen ließen? Weil Beckenbauer uns eben viel mehr gebracht hat als Pokale: zwei Weltmeistertitel – als Spieler und als Trainer. Ja, das waren große Momente. Aber es gipfelte in der Weltmeisterschaft 2006. K was war das für ein Fest für Deutschland, dass er uns da beschert hat! Beckenbauer bescherte uns in all den Jahren vermutlich mehr Emotionen als jeder andere Deutsche. Kurz vor dem großen Turnier, dass er uns Deutschen brachte, habe ich Franz Beckenbauer zum Interview persönlich getroffen. Bis heute ärgere ich mich über meine langweiligen Fragen.

Nun, nach seinem Tod, muss Deutschland mit allen Facetten einer seiner größten Legenden leben – den Hellen wie den Dunklen. Wir versuchen, sie gegeneinander abzuwägen. Die junge Generation ist solcherlei kaum noch gewohnt. Für sie gibt es keine Vorbilder mehr. Sie leben in einer Welt, wo jede halbwegs erfolgreiche Figur zeitnah von der dauer-moralisierenden Medien- und Social-Media-Öffentlichkeit zersägt wird. Wo jeder Kleinkram zum Skandal, jede Aussage auf die Goldwaage gelegt wird.

Wie gut, dass ich als Kind weder Social Media kannte noch die unerfüllbare Sehnsucht der Menschen nach moralischer Einwandfreiheit. Für mich ist Franz Beckenbauer gerade wegen seiner krasen Widersprüchlichkeit das ideale Vorbild: Er nutzte sein Talent, er war fleißig, willensstark, ehrgeizig, kreativ, lösungsorientiert. Aber ein Vorbild kann man auch durch sein Scheitern sein: Er fand kein Maß und glaubte, dass Erfolg ein Freifahrtschein ist. Er kannte kein Genug, weder privat noch im Beruf. So lernte ich viel vom „Kaiser“ und ich erinnere mich gern an all die schönen Momente, die er uns gebracht hat.

Franz Becken­bau­er ist am Sonntag im Alter von 78 Jahren gestorben.

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