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Technologie > Neue Produktionsmethode

Wo Deutschland doch spitze ist

Wenig Leute, teure Energiepreise: Deutschland droht, seine Industrie zu verlieren. Wäre da nicht eine neue Produktionsmethode.

Vorteil Standort Deutschland
Vorteil Standort D: Vielleicht ist Deutschland bei Software nicht so gut wie die USA, aber bei der Industrie- und Produktionssteuerung im Maschinenraum ist die Bundesrepublik weltweit spitze. Bild: Vector bucket/Shutterstock.com

Museal wirkt das Siemens-Mobility-Werk in Uerdingen mit seinem roten Backstein von außen. Seit 125 Jahren werden hier Züge gebaut, derzeit Hochgeschwindigkeitszüge, die Siemens unter der Marke Velaro in alle Welt verkauft. Hierzulande nennt man sie ICE. Im März 1898 wurde die „Waggon-Fabrik A.G., Uerdingen“ gegründet, das Jubiläum kürzlich gefeiert. In den 1920er-Jahren hatte Deutschland, die Weimarer Republik, um genau zu sein, viele Probleme. Aber in ­Uerdingen waren sie mit ihrer neuen Stahlbauweise weltweit führend. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte das nächste Kapitel mit dem Schienenbus, beliebt vor allem in strukturschwachen Regionen. Bis 2010 fuhren „Ferkeltaxen“ auf deutschen Schienen. In den 1980er-Jahren geht es dann mit dem ICE weiter – 400 Kilometer pro Stunde schnell.

Heute arbeiten hier 2000 Menschen, 1200 davon in der Produktion. Drei Schichten pro Tag, permanenter Akkord. Siemens steckte das Beste an Technik, das im Konzern zu finden ist, in die 64.000 Quadratmeter. Die Plattformfertigung, die Logistik – alles wird digital überwacht. Wenig Ausschuss, kurze Lieferzeiten – im Schnitt werden zwei bis drei Waggons pro Tag fertig. Und ein ICE besteht aus 67.000 Teilen. Dank der digitalen Lösungen ist die Flexibilität hoch, die Produktion kann schnell umgestellt werden. Ohne Hightech vom Feinsten wäre dieser Output undenkbar: Maschinen mit Sensoren und Computern hängen zusammen, erkennen Fehler frühzeitig oder sogar bevor sie auftreten. Den Menschen braucht es dabei noch immer bis hin zum Schweißen der Türsäulen. Das kann keine Maschine der Welt, nur jemand, der dafür 13 Prüfungen ablegen musste.

Das Beispiel Uerdingen zeigt, wie ein Produktionsstandort Weltkriege und technischen Wandel überstehen kann. Mittelständler haben aber keinen Siemens-Konzern im Rücken. Deshalb lohnt sich ein Blick nach Haiger. In der hessischen Provinz hat der Schaltschrankhersteller Rittal ein Werk gebaut, das als eine der modernsten Produktionsstätten der Welt gilt. Auf zwei fußballfeldgroßen Ebenen wird in einer Synchronität geschraubt, gestanzt, transportiert und verpackt, dass einer Ballettchoreografin das Herz aufgehen würde.


Die Paletten fahren präzise an Ort und Stelle wie eine programmierte Ameisenkolonie. Zwei Meter hohe Roboter falten Pappe zu Kartons so taktgenau, dass man beim Zusehen gern Beethovens Neunte anstellen würde. Den Rhythmus der Fabrik geben Bits und Bytes vor, den Dirigentenstab schwingt die künstliche Intelligenz. Das Hirn der Fabrik, Rechenzentrum genannt, ist wie ein begehbarer Kleiderschrank, nur, dass man ihn nicht betreten darf.

Wer sich fragt, wo die zig Tausend Kabel hinführen: genau hierher. Daten sammeln, auswerten, an die Maschinen zurückgeben. Wer Edge-Computing sagt, meint so etwas hier. Eine Cloud, durch Glasfaser in alle Welt verbunden, aber die Kiste steht doch vor Ort. Alles hier hat einen digitalen Zwilling, ein virtuelles Abbild von sich selbst. Automated Engineering erlebbar.

Fertig sei man aber noch nicht, betont Markus Asch, Chef von Rittal International und Rittal Software Systems. Bis sich Fabriken voll selbstständig steuern und datenbasiert auf Veränderungen reagieren, dauere es noch. „Aber wir wissen, was wir angehen müssen, und machen gute Fortschritte auf dem Weg.“ Die Herstellung und Ausrüstung von Schaltschränken mag nicht so sexy sein wie das Autobauen, aber als Nummer eins auf dem Nischenmarkt lässt es sich gut leben. Und um vorn zu bleiben, braucht es all das, was hier zu sehen ist.

Dauerhaft optimieren

Anders als in Uerdingen wurde keine alte ­Fabrik modernisiert: Das Werk in Haiger entstand für einen dreistelligen Millionenbetrag vor acht Jahren auf der grünen Wiese. Greenfield-Projekt heißt so etwas im Fachjargon. Die Kunst war, Ingenieure aller Fachrichtungen frühzeitig zusammenzutrommeln: Spezialisten für IT, Fertigungs- und Arbeitsprozesse, für Roboter-, Laser- und Rechentechnik, für Automatisierung: „Für die industrielle Transformation müssen wir die Herausforderungen vernetzt betrachten und in Prozessen denken. Wir müssen die Sektoren koppeln, damit übergreifende Ökosysteme und Datenräume entstehen“, erklärt Chef Asch in seiner eigenen Sprache.

Der Hochlauf war 2019. Seitdem wird optimiert. „Es gibt keine schlüsselfertigen Smart Factories, die Sie auf der grünen Wiese aufbauen können“, sagt Asch. „Die Realität ist: Man baut eine hochmoderne Fabrik und sorgt in vorgedachten Schritten dafür, dass sie immer smarter wird.“ Dafür brauche es vor allem Transparenz über Datenströme: Messen, verstehen, was wann vor sich geht, und optimieren – immer wieder. Es geht um die permanente Erweiterung von Transparenz. „Morgen werden wir vielleicht unsere Produktion auf Basis der vorhandenen Energie steuern“, sagt Asch.

Was heute logisch und wie selbstverständlich klingt, war vor ein paar Jahren gefühlter Irrsinn aus der Grünen-Ecke. Die Integration des Energiemonitorings in die dynamische Darstellung der Prozesse ist dafür die Grundlage. Schließlich haben sich die Kundenbedürfnisse verändert: Branchen und Anwendungen sind heute so ausdifferenziert, dass zunehmend individualisierte Lösungen zum Einsatz kommen. Hersteller müssen eine hohe Varianz auf Basis einer standardisierten Plattform liefern können. Die Fertigung soll bis an die Grenze des physikalisch Möglichen optimiert und gleichzeitig hochflexibel werden. Das geht nicht, ohne Kunden in die digitale Prozesskette einzubinden. „Zu wirtschaftlichen Konditionen und in Zeiten des Fachkräftemangels ist dafür in Europa ein hoher Digitalisierungsgrad alternativlos“, sagt Asch.

Es gibt rund zehn Millionen Fabriken auf der Welt. Deutschland führt seit Jahren im CIP-Index-Ranking der Unido (Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung), das die Wettbewerbsfähigkeit der Industrienationen misst. „Wir haben viel zu verlieren, wenn die hiesige Industrie die Digitalisierung nicht meistert“, sagt Rittal-Chef Asch. Europa und Amerika hatten drei Jahrzehnte lang einen Gutteil ihrer Industrie nach China ausgelagert. Nun holen die Amerikaner die Produktion zurück ins Land, Fabriken werden auch wieder im Westen gebaut. Die mit der Digitalisierung einhergehende Datenwirtschaft ermöglicht der Industrie eine Renaissance.

Fabrik als digitaler Zwilling

Dass Rittal als wesentlicher Teil der Loh-Gruppe ein Familienunternehmen ist, betont die Konzernführung immer wieder. Asch sieht sich als Teil des Mittelstandes und berät auch Betriebe. Schließlich hilft es Rittal, wenn auch die Lieferanten bestmöglich digitalisiert sind. Ein Datenraum ist in dieser Hinsicht immer nur so stark wie das schwächste Glied in der Lieferkette. Noch gibt es erhebliche Lücken. Das Ziel ist, für Anlagen, Produkte und Fertigungsprozesse je einen vollständigen digitalen Zwilling zu erzeugen. So wurde Rittal vom Blechbieger zum Vorbild. Ein Mittelständler, der jüngst mit stolzgeschwellter Brust auf der Hannover Messe von sich erzählen konnte.

Die Leitmesse hat Hoffnung gemacht und ihren Zweck als Ort der neuen Kooperation vermutlich mehr erfüllt denn je: Aussteller zeigen Lösungen, ja. Aber viel wichtiger ist Asch zufolge das Denken in Prozessen und Ökosystemen. „So kann die nötige Kopplung der Sektoren Realität werden. Innovationen werden nicht nur vorgestellt, sondern wachsen auf der Messe.“ Für die produzierende Industrie sind die Fabriken das Herzstück – wirtschaftlich, technologisch und im Hinblick auf Nachhaltigkeitsziele. Ohne Smart-Production werde Europa keine Chance haben als Industriestandort, sagt der Rittal-Chef.

Bisher lautete die Frage: Wie fertige ich ein Produkt effizient und damit kostengünstig in der gewünschten Menge? Heute fragen sich die Produzenten: Wie erreiche ich dieses Ziel mit möglichst geringem Energieeinsatz pro Werkstück? Und diese Aufgabe ist komplex. Das entscheidende Stichwort lautet Sektorenkopplung: Die Energiedaten sind nicht viel Wert ohne eine Verbindung zu den Daten der Fertigungsprozesse.

Es ist die Hannover Messe 2023, bei der die deutsche Industrie ein neues Kapitel aufgeschlagen hat – indem sie riesige Datennetze für Maschinen knüpft. Es ist der Ausweg aus der Misere: hohe Energiekosten, vor allem für Strom, gepaart mit einem Personalmangel, der vor allem bei Ingenieuren katastrophale ­Folgen hat. Kein Wunder, dass die Bereitschaft zur Kooperation selten so groß war. Berater, Techkonzerne, Softwarehersteller: Es fanden sich Paare, die sich vor Kurzem noch aus dem Weg gingen. Ein spektakuläres neues Bündnis ist das zwischen Siemens und Microsoft: Die beiden Konzerne verknüpfen die Siemens-Software mit Microsofts Kommunikationsplattform Teams und den Sprachmodellen von OpenAI, der Firma hinter ChatGPT, um noch leistungsstärkere künstliche Intelligenz zu entwickeln. Im Kern geht es darum, dass Mitarbeiter mit Computern in natürlicher Sprache kommunizieren können und mit den Tools, die sie auch im Kollegenkreis verwenden.

Eine wichtige Rolle bei der Digitalisierung deutscher Produktionsstätten spielt SAP. Der Softwarehersteller baut sozusagen das Facebook der Fabriken nach dem Motto: Einheitliche Daten schaffen unter den Maschinen eine einheitliche Sprache. Bei den Konsumenten hat Deutschland das Rennen verloren, bei den Datennetzen der Industrie liegt es vorne. Drei Buchstaben bedeuten hier die Welt: ERP – die computergesteuerte Planung des Ressourceneinsatzes in Unternehmen. Wer so etwas hat, weiß genau, woher jede Schraube stammt. Das Lieferkettengesetz lässt grüßen. SAP ist hier Weltmarktführer, aber nur ein Rad im großen Getriebe.

Datenprojekte wie Catena-X in der Auto­branche oder Manufacturing-X bei den Maschinenbauern sorgen dafür, dass sich die Daten der Unternehmen untereinander verstehen. Während Catena-X fragt, wie man am besten eine Lieferkette aufzieht, will Manufacturing-X wissen, wie man etwa am effizientesten ein Blechteil produziert. Über Firmengrenzen hinweg liegen hier Daten auf virtuellen Plattformen, sicher und strukturiert. So entstehe künftig industrielle Wertschöpfung, lautet die Botschaft aus Hannover. „Mit Manufacturing-X schlagen wir das nächste Kapitel für Industrie 4.0 auf“, sagte Gunther Kegel, Chef des Verbandes der Elektro- und Digitalindustrie ZVEI, auf der Hannover Messe. Wer Kabelbäume herstelle, sei nun auch eine Digitalfirma. „Ja, wir schauen neidvoll auf die Softwarekompetenz Amerikas und den Marktanteil Chinas an der Welthalbleiterproduktion. Aber im industriellen Maschinenraum macht uns niemand etwas vor“, sagte Kegel.

KI aus Heidelberg

Die neuartigen Firmen der künstlichen Intelligenz werden hier für den weiteren Schub sorgen. Wer an ChatGPT denkt, sollte auch das deutsche Start-up Aleph Alpha kennen – einer der Stars der diesjährigen Hannover Messe. Auch hier geht es über eine Kooperation: Der US-Konzern Hewlett Packard Enterprise hat den Heidelbergern den Supercomputer Alpha One gebaut, auf dem Aleph Alpha dann das KI-Sprachmodell Luminous entwickelte, das es mit der Konkurrenz von Microsoft und Google aufnehmen kann. So präsentierten HPE und Aleph Alpha einen KI-Assistenten, der in Sprache und Bildern mit dem Fabrikpersonal kommuniziert. Die KI beantwortet Fragen rund um die Installation, Wartung und Betriebssicherheit eines Roboters – wie ein Servicetechniker, der Helfer für die ganz komplexen Aufgaben. Allemal besser, als Handbücher von mehreren Tausend Seiten zu wälzen.

ChatGPT ist eben nicht nur ein Thema für Schüler, die keine Lust haben, ihren Aufsatz selbst zu schreiben. Dass die künstliche Intelligenz Programme für die Steuerung schreibt und die knappen Coder von Routinetätigkeiten entlastet, ist eine Sache. Dass sich Servicetechniker bald unkompliziert mit einer Maschine unterhalten können, macht es noch spannender.
Nach einer Umfrage des Beratungsunternehmens Boston Consulting Group senken Unternehmen, die KI erfolgreich einsetzen, ihre Produktionskosten um 14 Prozent. In Deutschland haben bereits drei Viertel der befragten produzierenden Industrieunternehmen künstliche Intelligenz in mindestens einem Anwendungsfall vollständig ausgerollt. Nur in China und Indien ist der Anteil noch etwas höher. Der Tenor: KI wird schnell industrieller Alltag. Ein Problem ist noch, dass die KI immer wieder Fakten erfindet. Das zu lösen, wird aber eher Monate als Jahre dauern. Sprachmodelle wie ChatGPT könnten Dialoge führen, recherchieren, Fehler finden und Prozesse optimieren. Auch die Simulation und die Designentwicklung dürften vom Einsatz künstlicher Intelligenz profitieren.

Was jetzt nötig sei, sei mehr Mut, sagt Sven Schmidt-Rohr, Mitgründer von Artiminds. Das Karlsruher Unternehmen entwickelt Software für den Einsatz von Robotern. „In der Industrie fehlt die Offenheit und die Risikobereitschaft, Innovationen schnell auszuprobieren.“ Notwendig sei ein Mentalitätswandel. „Aus Ingenieuren müssen Digitalingenieure werden." Vor allem Mittelständler müssten sich den neuen Technologien stärker öffnen.

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