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Zukunftsmärkte > Personalmangel

Braucht Amerika mehr Arbeitslose?

Die USA, heißt es so schön, nehmen viele Entwicklungen vorweg, die wir kurz darauf auch in Deutschland sehen. Umso spannender ist ein Blick auf den dortigen Arbeitsmarkt: Auf jeden Arbeitslosen kommen dort 1,6 Stellen, die zu besetzen sind.

Gerade die Löhne im Dienstleistungssektor, beispielsweise im Baugewerbe, sind in Amerika besonders schnell gestiegen. Bildnachweis: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Jim West

Die amerikanischen Sommer, in dem sich die Menschen allzu gern die Zeit mit Baseballspielen, gegrillten Marshmallows und Volksfesten verbringen, hat inzwischen ein paar neue Traditionen: Schwimmbäder, denen es an Rettungsschwimmern mangelt, Ferienlager, die Betreuer brauchen, und Restaurants, die verzweifelt nach Kellnern suchen. Diese Engpässe sind nicht nur für die betroffenen Unternehmen von Bedeutung. Seit mehr als einem Jahr, in dem die US-Notenbank die Inflation bekämpft, hat der Zustand des amerikanischen Arbeitsmarktes außerordentliche Bedeutung erlangt. Seine Gesundheit ist ein entscheidender Indikator dafür, ob die Schlacht gewonnen oder verloren wird.

Ursprünglich wurde die Covid-19-Pandemie für viele der Lücken in der Erwerbsbevölkerung verantwortlich gemacht, da die Menschen weniger geneigt waren, sich auf die Suche nach einem Arbeitsplatz zu begeben. Wie die jüngsten Datenveröffentlichungen zeigen, ist nun die Wirtschaft selbst die Ursache für die Belastungen. Betrachtet man die breite Palette von Indikatoren, deuten sie auf eine leichte Abschwächung des Arbeitsmarktes hin. Doch der ist im historischen Vergleich immer noch bemerkenswert widerstandsfähig.

Auf jeden Arbeitslosen in Amerika kommen 1,6 verfügbare Arbeitsplätze – ein Verhältnis, das seit Mitte 2022 leicht rückläufig ist, aber deutlich über der Norm vor der Pandemie liegt. Seit Februar 2020 - bevor der Covid Amerika heimsuchte - hat die Wirtschaft fast 4 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, womit die Beschäftigung über ihrer langfristigen Trendlinie liegt. Es scheint nicht viele Arbeitnehmer zu geben, die auf der Strecke bleiben: Etwa 84 Prozent der Arbeitnehmer im Haupterwerbsalter (zwischen 25 und 54 Jahren) sind jetzt erwerbstätig, so viel wie seit 2002 nicht mehr und nur einen Prozentpunkt von einem Allzeithoch entfernt.

Aus der Sicht der Arbeitnehmer ist diese Dynamik zu begrüßen. Die Löhne sind im Dienstleistungssektor, der eine geringere Ausbildung erfordert, besonders schnell gestiegen, beispielsweise im Baugewerbe. Dies wiederum hat dazu beigetragen, die Einkommensungleichheit, die Amerika plagt, etwas zu verringern. Weniger wohlhabende Teile der Bevölkerung profitieren in der Regel unverhältnismäßig stark von einem angespannten Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote für schwarze Amerikaner lag im April bei 4,7 Prozent und damit auf einem Rekordtief.

Werden diese Zuwächse Bestand haben, wenn sich der Arbeitskräftemangel auf die Preise niederschlägt? Die Stundenlöhne stiegen im Juni auf das Jahr hochgerechnet um 4,4 Prozent, was einer Inflationsrate entspricht, die etwa doppelt so hoch ist wie das Ziel der Federal Reserve von 2 Prozent. Alternative Messgrößen deuten darauf hin, dass der Aufwärtsdruck noch größer sein könnte. Ein von der Fed-Niederlassung in Atlanta erstellter Tracker deutet auf ein annualisiertes Lohnwachstum von rund 6 Prozent in diesem Jahr hin.

Die anhaltende Stärke des Arbeitsmarktes ist so gut wie eine Garantie dafür, dass die Fed auf ihrer Sitzung Ende Juli die Zinsen wieder anheben wird, nachdem sie im Juni davon abgesehen hat. Die Märkte messen einer Zinserhöhung um einen Viertelpunkt inzwischen eine Wahrscheinlichkeit von 92 Prozent bei; noch vor einem Monat wurde dies als Glücksspiel angesehen. Als im März eine Handvoll Kreditinstitute, darunter die Silicon Valley Bank, zusammenbrach, befürchteten viele, dass die Turbulenzen auf den Finanzmärkten auf die Wirtschaft übergreifen würden. Doch in einer Rede am 6. Juli argumentierte Lorie Logan, Leiterin der Fed-Niederlassung in Dallas, dass die unerwartet gute Beschäftigungslage eine restriktivere Politik erfordere. "Die Zahl der Entlassungen ist weiterhin gering", sagte sie. "Es gibt keine Anzeichen für eine abrupte Verschlechterung der Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt.

Optimisten hoffen, dass der Arbeitsmarkt so weitermachen kann wie bisher. Das heißt, dass er sich zwar abkühlt, aber ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit vermieden wird. Sie verweisen auf mehrere Indikatoren. So gab es im Mai etwa 9,8 Millionen offene Stellen, 1,6 Millionen weniger als vor einem Jahr. Im Idealfall würden die Arbeitgeber Stellenanzeigen streichen, aber keine Arbeitnehmer auf die Straße setzen. Ein solcher Rückgang der Personalnachfrage könnte theoretisch zu einer allmählichen Verlangsamung des Lohnanstiegs führen, ohne die Zuwächse der letzten Jahre rückgängig zu machen. Bis zu einem gewissen Grad ist dies auch der Fall. Das Wachstum der Stundenlöhne ist zwar immer noch rasant, aber um einen Prozentpunkt niedriger als vor einem Jahr.

Die pessimistische Erwiderung ist, dass die Abkühlung noch einen langen Weg vor sich hat und die Wirtschaft sich nicht in ordentlichen Schritten bewegt. Die Fed hat die Zinssätze im vergangenen Jahr aggressiv angehoben, und ein Teil der Auswirkungen ist noch nicht zu spüren. Gleichzeitig hat die Zentralbank, solange der Arbeitsmarkt angespannt und die Inflation hartnäckig hoch ist, kaum eine andere Wahl, als die Zinssätze weiter anzuheben. Bisher ist noch nicht viel kaputt gegangen. Aber die Spannungen nehmen zu.

© 2023 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.

Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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