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Zukunftsmärkte > Regierung gleicht den Buddenbrooks

Wenn hier einer wie die Buddenbrooks handelt, dann die Regierung

Unser Partnermagazin, der britische Economist, nimmt den deutschen Mittelstand unter die Lupe. Ergebnis: Untergangsphantasien wie die Protagonisten bei den Buddenbrooks hat er nicht. Im Gegenteil. Die einzigen, die sich dem Niedergang hingeben, seien allenfalls die Regierenden in Deutschland.

Das Buddenbrookhaus in der Innenstadt von Lübeck. Bildnachweis: picture alliance / imageBROKER | Schoening

Spricht man heutzutage mit deutschen Chefs, kommt man früher oder später auf die „Buddenbrooks" zu sprechen. Thomas Manns epische Erzählung über den gleichnamigen Clan von Getreidehändlern und ihren Untergang ist Pflichtlektüre in deutschen Wirtschaftskreisen und Schulen. Heute dient es als passende Metapher für den wahrgenommenen wirtschaftlichen Niedergang des Landes. Das BIP könnte in diesem Jahr schrumpfen. Die Inflation bleibt hartnäckig hoch. Die einwanderungsfeindliche AfD iegt in einigen Meinungsumfragen an zweiter Stelle und gefährdet Deutschlands Ruf der Offenheit gegenüber qualifizierten Ausländern. Ikonische Unternehmen fliehen ins Ausland. BASF, das größte Chemieunternehmen der Welt, baut seine hochmoderne 10-Milliarden-Dollar-Fabrik in China. Der Industriegasekonzern Linde zog sich von der Frankfurter Börse zurück, um den schwerfälligen Regeln zu entgehen, behielt aber seine Notierung in New York bei. BioNTech, das an der Entwicklung eines der ersten Covid-19-Impfstoffe der Welt beteiligt war, baut seine Krebsforschungsaktivitäten in Großbritannien auf.

Der deutsche Mittelstand: Ein Lichtblick in turbulenten Zeiten

Durch eine tragische Buddenbrook'sche Linse betrachtet, kann der deutsche Niedergang unvermeidlich erscheinen. Nicht so für Nicola Leibinger-Kammüller, Geschäftsführerin von Trumpf, einem 100 Jahre alten Familienunternehmen mit Sitz in Ditzingen bei Stuttgart, das Industriewerkzeuge wie Laserschneider und Stanzmaschinen herstellt. Nach ihrer Lesart wurde der Untergang der Buddenbrooks nicht von anderen verursacht. Sie haben ihn sich selbst eingebrockt, indem sie sich von den Tugenden der Sparsamkeit und der harten Arbeit abgewandt haben. Das lässt einen Weg zur Erlösung offen. Und dieser, so glaubt sie, führt über den Mittelstand, das unternehmerische Rückgrat der deutschen Wirtschaft.

Im Mittelstand sind rund 3,5 Millionen kleine und mittlere Unternehmen angesiedelt. Sie sind so vielfältig wie ihre Produkte, die von der Kettensäge bis zur Industriesoftware reichen. Einige sind groß und alt: Trumpf beschäftigt weltweit 17 000 Mitarbeiter und erzielt einen Jahresumsatz von 5,4 Milliarden Euro. Andere sind klein und jung, wie TeamViewer, ein 18 Jahre altes Computer-Wartungsunternehmen mit 1400 Mitarbeitern, oder Marvel Fusion, ein 2019 gegründetes Startup-Unternehmen für Kernfusion. Trotz dieser Vielfalt haben sie zwei wichtige Dinge gemeinsam. Sie sind unermüdlich innovativ. Und nicht zuletzt sind ihre Führungskräfte, wie eben auch Leibinger-Kammüller, weniger pessimistisch, was die Aussichten für Deutschland angeht, als viele ihrer Kollegen von den Blue Chips.

Mehr als 80 Prozent der mittelständischen Unternehmen schätzen ihre Lage als stabil oder gut ein, wie eine Umfrage des Mittelstandsverbands ZGV im Juli ergab. Die Stimmung ist nicht gerade rosig: Die Hälfte meldete, dass der Umsatz im zweiten Quartal zurückgegangen ist. Aber sie ist hoffnungsvoll. Der Mittelstand stellt weiter ein und investiert im Inland. Im Juli kündigte Trumpf eine Investition in Höhe von 380 Millionen Euro an seinen Hauptsitz an. „Die Leute sagten, wir seien verrückt geworden", erzählt Leibinger-Kammüller.

In Wirklichkeit ist Trumpf kühl und rational. „Die aktuelle Welle des Pessimismus ist völlig übertrieben", sagt Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Privatbank Berenberg. Deutschland erfreut sich einer Rekordbeschäftigung und einer niedrigen Staatsverschuldung. Vor allem aber verfüge es mit dem Mittelstand über „eine der besten Suchmaschinen für Innovationen, die je erfunden wurden". Diese "Hidden Champions", die in ihrer Marktnische weltweit führend sind, haben schon früher schmerzhafte Übergänge gemeistert, etwa nach der deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren. Jetzt passen sie sich erneut an, sei es an die höheren Energiepreise oder an die kühleren Beziehungen zu China, das zu einem großen Markt für die Produkte des Mittelstands geworden ist, aber selbst wirtschaftlich geschwächt und geopolitisch feindlich gesinnt ist.
 

Trumpf gibt 11 Prozent seines Umsatzes für Forschung und Entwicklung aus, fast doppelt so viel wie der Durchschnitt der deutschen Industrie insgesamt. Das Unternehmen tauscht sich ständig mit seinen Kunden aus, um seine Produkte an deren veränderte Bedürfnisse anzupassen. In Zusammenarbeit mit einem Kunden hat Trumpf eine Methode entwickelt, um mit Hilfe von Lasern Metall so zu schneiden, das es weniger von der neuen, teuren Energie verbraucht als die herkömmliche Methode des Schneidens von Blechen. Karl Haeusgen, Vorsitzender von Hawe, einem Hersteller von Hydraulikpumpen, sagt, dass Gespräche mit einheimischen Kunden die Hauptquelle für Innovationen in seinem Unternehmen sind. „Unsere chinesischen Kunden kaufen, was wir haben, aber unsere deutschen Kunden fordern unsere Kreativität heraus", sagt er.

Oliver Steil, Geschäftsführer von TeamViewer, stimmt zu, dass der Mittelstand einige der agilsten und innovativsten Unternehmen in Deutschland beherbergt. Sie profitieren von der Nähe zu den großen deutschen Industrieunternehmen, für die sie oft als Zulieferer tätig sind, und von dem großen Fundus an technologischem und ingenieurwissenschaftlichem Know-how in Deutschland. Vor allem aber sind sie in Zeiten des Wandels risikofreudig, sagt Steil. Unbeeindruckt von der alten Weisheit, dass die Fusionsenergie noch 20 Jahre entfernt ist und für immer bleiben wird, ist Marvel Fusion entschlossen, eine kommerziell nutzbare Energieerzeugung zu entwickeln, bei der Atome mit Hilfe von Lasern zusammengeschossen werden.

Mittelstand vs. Regierung: Wer trägt die Zukunft Deutschlands?

Wenn es einen Buddenbrook in diesem jüngsten Kapitel der Mittelstandsgeschichte gibt, dann ist es die deutsche Regierung. Politiker und Bürokraten sind zu sehr in ihren Gewohnheiten verhaftet, seufzt Steil. Sie scheinen der Bürokratie und hohen Steuern verhaftet zu sein und kein Interesse an der Förderung von Innovationen zu haben. Das führt dazu, dass einige mittelständische Unternehmen verkaufen oder ihr Glück woanders versuchen. Im April verkaufte Viessmann, ein Hersteller von Wärmepumpen, den größten Teil seines Geschäfts an den amerikanischen Konkurrenten Carrier. Sogar Marvel Fusion hat sich kürzlich mit der Colorado State University zusammengetan, um in Amerika einen 150 Millionen Dollar teuren Forschungsstandort einzurichten.

Heike Freund, Geschäftsführerin von Marvel Fusion, hofft immer noch, irgendwann ein Kraftwerk in Deutschland zu bauen. Im März hat die Bundesagentur für disruptive Innovationen 90 Millionen Euro zur Förderung der laserbasierten Fusion in Deutschland zugesagt, von denen die Hälfte an Marvel gehen wird. Bei einem Treffen auf Schloss Meseberg in der Nähe von Berlin stellte die Regierung kürzlich ein „Wachstumschancengesetz" vor. Darin enthalten ist ein 7-Milliarden-Euro-Steuererleichterungspaket, das dem Mittelstand zugutekommen soll. Am 6. September kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz eine Reihe von Maßnahmen zur Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, zur Vereinfachung der Zuwanderungsregeln für Fachkräfte und zur Erleichterung von Unternehmensgründungen an - drei Lieblingsbeschwerden der Mittelständler. Je schneller die Regierung ihre eigene Buddenbrooksche Selbstgefälligkeit abschütteln kann, desto besser. 

© 2023 The Economist Newspaper Limited. All rights reserved.

Aus The Economist, übersetzt von der Markt & Mittelstand Redaktion, veröffentlicht unter Lizenz. Der Originalartikel in englischer Sprache ist zu finden unter www.economist.com

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