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Personal > Neues Arbeitszeitgesetz

Das Ende der Vertrauensarbeitszeit

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil macht den Lenin: Sein Entwurf zum Arbeitszeitgesetz ist vom Misstrauen gegenüber den Betroffenen geprägt. Kommt das Gesetz so, wie geplant, dürfte es das Leben von Millionen Deutschen verändern.

Filmset von Til Schweiger
Nach langen Drehtagen noch cool am Pool? An Filmsets von Til Schweiger (M.) geht es offenbar nicht immer so ruhig zu wie in dieser Szene. Stattdessen soll geschrieen und gepöbelt werden. Bild: picture alliance/dpa | Clara Margais

Schläge, Beleidigungen, Suff: Die Liste der schweren Vorwürfe, mit denen sich Til Schweiger neuerdings überzogen sieht, ist lang. Der Schauspieler, Produzent und Unternehmer soll sich mehrfach am Set daneben benommen haben. Constantin Film bestreitet die Vorwürfe vehement. Dennoch: Die arbeitsrechtlichen Defizite deutscher Filmproduktionen kommen ans Licht. Der Bundesverband Regie donnerte einen Brandbrief in die Öffentlichkeit, in dem klar wird, dass die Dramatik im System liegt: „Was wir dringend wirklich brauchen, sind akzeptable Arbeitsverhältnisse, die die Menschen vor sich und anderen schützen, und international vergleichbare Arbeitszeiten“, lautet noch einer der netteren Sätze des Schreibens.

Fachleute sprechen vom „Billigfilmland“, in dem Kassenschlager selten sind, dann aber sehr oft auf das Konto von Schweiger gehen. Auch „Manta Manta – Zwoter Teil“ bringt Geld an den Kinokassen, im achtstelligen Bereich waren die Einnahmen schnell. Wenn Schweiger mit seinen vergleichsweise üppigen Budgets nicht ohne sehr viele Überstunden auskommt, wer dann?

Die problematischen Arbeitsbedingungen in der deutschen Filmbranche sind international bekannt. Streamingsender brauchen dauerhaft neuen Stoff, sorgen für eine erhebliche Steigerung der Auftragslage für Filmschaffende. Gerade bei Netflix & Co. zeigen sich die erheblichen Unterschiede zwischen deutschen und US-Filmschaffenden. Amerikaner bezeichnen ihre deutschen Kollegen gern mal als „white Mexicans“: wenig Geld für lange Arbeitstage, oft mehr als zwölf oder 14 Stunden. Mit den mächtigen Gewerkschaften in den USA wäre das nicht zu machen.

Der Casus Schweiger kommt für Hubertus Heil wie gerufen. Der Bundesarbeitsminister war zuletzt in die Defensive geraten nach gut fünf Jahren im Amt, in denen sich der SPD-Mann den Ruf erworben hatte, vergleichsweise pragmatisch zu handeln. Damit war es bei den meisten Verbänden und Arbeitgebern vorbei, als Heil den Entwurf für sein neues Arbeitszeitgesetz vorlegte.

Hier zeigte sich ein Minister, der in Arbeitgebern nur das Schlechte vermutet. Als ob es den Personalmangel gar nicht gäbe, der aus dem Arbeitgeber- einen Arbeitnehmermarkt gemacht hat. Als ob Betriebe ihren Leuten nicht ohnehin fast jeden Wunsch erfüllen müssten, damit sie nicht mit den Füßen abstimmen. Heil, der bekennende Freund von Gewerkschaften, könnte nun sagen: „Seht her, was passiert, wenn Unternehmen unreguliert handeln. In jedem von euch steckt ein bisschen Til Schweiger!“

Macht für Gewerkschaften

Zumindest in der Theorie hat er das neue Arbeitszeitgesetz für genau solche Fälle entworfen – und ist dabei weit über die Vorgaben der Europäischen Union und des Bundesarbeitsgerichtes hinausgegangen. Letzteres hatte im Herbst 2022 festgelegt, dass Firmen die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter festhalten müssen – bisher gilt das nur für Überstunden, was in der Praxis aber auch nur bedingt nachgeprüft wird. Dieses Grundsatzurteil musste der Gesetzgeber im Detail ausarbeiten. Und Heil nutzte seinen Spielraum für sehr rigide Vorgaben. Alle Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern müssen sich auf eine elektronische und tägliche Erfassung der Arbeitszeit einstellen.

Zwar ist es für Betriebe und ihre Beschäftigten weiter möglich, darauf zu verzichten, aber nur unter ganz bestimmten Bedingungen. So muss es im Betrieb einen Tarifvertrag geben – die jeweilige Gewerkschaft also zustimmen. Ausnahmen darf es somit nur geben, wenn das im Tarifvertrag oder in Betriebsvereinbarungen festgehalten wird. Was nach Detail klingt, ist fundamental und auch ein deutscher Alleingang. Weder Gericht noch EU haben das verlangt. Und rund drei Viertel der deutschen Unternehmen erfüllen diese Bedingungen nicht. Bernd Pirpamer, Arbeitsrechtler bei der Kanzlei Eversheds Sutherland, ordnet den Passus so ein: „Abzuwarten bleibt, zu welchem Preis sich Gewerkschaften bereit erklären, Abweichungen in Verbands- oder Haustarifverträgen zu vereinbaren.“

Selbst in Tarif-Betrieben gilt die Ausnahme vor allem nur für Arbeitnehmer, „bei denen die gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann“, so der Entwurf. Damit sind zum Beispiel Führungskräfte gemeint, herausgehobene Experten oder Wissenschaftler, bei denen es praktisch unmöglich ist, zu festgesetzten Zeiten am Arbeitsplatz anwesend zu sein, und die über den Umfang und die Einteilung ihrer Arbeitszeit selbst entscheiden können.

Wer in Heils Bundesarbeitsministerium nachfragt, wie die heiklen Stellen mit der Vertrauensarbeitszeit gemeint sind, wird vertröstet. Der Minister selbst ist dafür nicht zu sprechen. Und so schlägt die Stunde der Arbeitsrechtler, die fröhlich spekulieren: Warum die Personengruppe, für die Ausnahmen möglich sind, im Gesetzesentwurf so eng gefasst ist, erschließt sich Anwälten nicht. Heil hätte viel mehr Ausnahmen machen können. In der heutigen Welt können verschiedene Berufsgruppen in praktisch allen Hierarchieebenen ihre gesamte Arbeitszeit selbst festlegen, gerade im Homeoffice. Arbeitgeber werden mit genau diesem Wunsch nach Flexibilität von den Beschäftigten immer häufiger konfrontiert. Doch sie brauchen, wenn der Entwurf so Gesetz wird, die Erlaubnis der Tarifvertragsparteien, um von der Aufzeichnungspflicht entbunden zu werden. Und wenn es diese nicht gibt, darf – Stand heute – auch keine Ausnahme gemacht werden. Für die EU ist Freiwilligkeit entscheidend, für das Bundesarbeitsministerium nicht.

Aktuell fragen sich viele Unternehmen und Beschäftigte, ab wann sie ihre Arbeitszeit korrekt erfassen müssen. Obwohl das Gesetz noch lange nicht in Kraft getreten ist und die Opposition Widerstand ankündigt, sind Anwälte hier eindeutig: Ralf-Dietrich Tiesler, Partner bei Menold Bezler, betont, dass grundsätzlich ab sofort aufgezeichnet werden muss. Je nach Unternehmensgröße haben die Betriebe aber bis zu fünf Jahre Zeit, um die elektronische Erfassung einzuführen. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung lässt sich leicht erkennen, wie groß der Unterschied zu Handschrift plus Excel-Liste ist. Aufgezeichnet werden muss tagtäglich jede Arbeitszeit, also nicht pauschal zum Beispiel sechs Stunden, sondern Start- und Endzeit inklusiver aller Unterbrechungen.

Das Eintragen in Softwaretools oder elektronische Listen kann der Arbeitgeber auf den Beschäftigten übertragen. Mogeln sollten die dann aber nicht – weder in die eine Richtung noch in die andere: Wenn Mitarbeiter falsch aufzeichnen, begehen sie eine Ordnungswidrigkeit. Die Unterlagen müssen zwei Jahre aufbewahrt werden. Alexander Möller, Partner im Arbeitsrecht bei der Kanzlei SKW Schwarz in Frankfurt, rät dazu, damit nicht zu warten: „Prinzipiell ist der Arbeitgeber bereits jetzt verpflichtet, dem Arbeitnehmer eine Aufzeichnungsmöglichkeit zur Verfügung zu stellen.“

Die Einhaltung der Regelung wird – praktisch ist das auch eine wesentliche Neuerung – deutlich schärfer kontrolliert. Bisher sieht das Gesetz vor, dass Überstunden protokolliert werden müssen, was in der Realität sehr viele Unternehmen nicht ordentlich durchführen. Kontrolliert wird das praktisch nicht. Ähnlich sieht es bei der Ruhezeit aus, die zwischen Arbeitsende und Neubeginn elf Stunden betragen muss. In der Realität wird das oft nicht eingehalten. Bei einer elektronischen Erfassung würden sowohl Überstunden als auch das Unterlaufen der Ruhezeiten auffällig werden.

Flexibilität geht verloren

Genau an dieser Stelle trifft das Gesetz, wenn der Entwurf so oder so ähnlich Realität wird, Menschen wie Julia Schröder. Ihre Arbeit als Führungskraft und das Familienleben in Einklang zu bringen, bedeutet für sie, keine elf Stunden Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen zu haben. Wenn abends die Kleinen schlafen, geht der Rechner noch mal an, gern auch bis 22 Uhr. Ihr macht das nichts aus, sie mag die Ruhe. Genauso ist es morgens, wo sie vor dem Aufwachen der Kinder die letzten Korrekturen an Präsentationen und Berichten erledigt. Umgekehrt hat sie tagsüber Pausen, in denen sie sich um Haushalt und Kinder kümmert. Nur so schafft sie ihr Pensum bei Arbeit und Beruf. Julia Schröder heißt in Wirklichkeit anders. Sie möchte anonym bleiben, aber ihr Fall ist typisch und Zigtausende werden sich darin wiederfinden. Ein nennenswerter Teil der Beschäftigten liebt und braucht die Vertrauensarbeitszeit, um den Alltag zu meistern. Wenn sie buchstabengetreu dem Arbeitszeitgesetz folgen müssten, würde das ihre Lebensqualität und die der Familie senken. Genau das droht ihnen jetzt.

Was für Beschäftigte an Heils Entwurf besonders wichtig ist: Wenn Arbeitnehmer – egal ob im Homeoffice oder im Büro – ihre Arbeitszeit nicht korrekt angeben, können sie mit einer Buße belegt werden, selbst wenn er oder sie derzeit noch im Rahmen der Vertrauensarbeitszeit tätig ist. Wer heute zum Beispiel seinen Arbeitsalltag stückelt, um kranke Kinder zu betreuen, muss jede Unterbrechung einzeln eintragen. Das ist nicht nur aufwendig, sondern kommt bei vielen auch einem Kulturbruch gleich. Kaum noch möglich ist, dass Beschäftigte und Arbeitgeber einvernehmlich auf die exakte Erfassung von Arbeitsstunden verzichten oder gar vereinbaren, dass die Erfüllung der Tätigkeit nach Wirkung bezahlt wird – was ja heute in vielen Branchen üblich ist.

Wozu das führt, ist so offensichtlich wie falsch: Das Arbeitszeitrecht wird gegen den gerichtet, den es schützen soll. Wenn der Arbeitnehmer freiwillig auf Aufzeichnung verzichten möchte, darf er oder sie das nicht mehr. Die Vertrauensarbeitszeit, zu der sich die Ampelregierung im Koalitionsvertrag noch ausdrücklich bekannt hat, wird ab absurdum geführt. Der Arbeitgeber muss „durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass ihm Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten bekannt werden“. Heil möchte das nicht Kon­trolle nennen, de facto ist es eine solche.
Angesichts der Diskrepanz zwischen der gelebten Realität vieler Beschäftigter und dem Entwurf aus dem Hause Heil stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Die Scharen der Flexibilität liebenden Wissensarbeiter mögen über Heils rigiden Kurs den Kopf schütteln, aber da gibt es in Deutschland eben auch die Mitarbeiter am Set von Til Schweiger. Und insgesamt einen stark wachsenden Markt für ungelernte Kräfte, deren Zahl 2022 erstmals die Marke von 2,5 Millionen überschritten hat. Viele von ihnen werden trotz geringer Kenntnisse gesucht.

Im Bundesarbeitsministerium sieht man es so: Gesundheitliche Schäden durch Überlastung können nur durch eine vollständige Erfassung der Arbeitszeit verhindert werden. „Gerade in einer flexiblen Arbeitswelt kommt der Erfassung der geleisteten Arbeitszeiten eine besondere Bedeutung zu“, heißt es. Richtig ist, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt. Aber ob das an der Arbeitszeit liegt, ist höchst umstritten. Viel wichtiger ist das Verhältnis zu Vorgesetzten und Kollegen und das Gefühl, eine sinnhafte Tätigkeit auszuführen – wie nicht zuletzt der renommierte AOK-Gesundheitsreport darlegt.
Zudem kann keine Arbeitszeiterfassung die permanente Erreichbarkeit via E-Mail oder am Smartphone eingrenzen. Das können nur die Firmenkultur, individuelles Verhalten und Absprachen mit den Vorgesetzten. Denen, die die Erfassung der Arbeitszeit ursprünglich forderten, geht die geplante Form übrigens auch zu weit: Das Bundesarbeitsgericht hat kürzlich klargestellt, dass sein Leitsatz zur Zeiterfassungspflicht nicht für die Arbeit von Richtern gelte. Das genaue Protokollieren der Arbeitszeit passe nicht zur Art ihrer Tätigkeit, und sie würden deshalb „nicht an der automatisierten Zeiterfassung am Bundesarbeitsgericht teilnehmen“.

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