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Kunden & Märkte > Neues Gesetz für Betriebe

Bürokratie bremst Lieferkette

Das Lieferkettengesetz bringt viele Betriebe zur Verzweiflung. Der Aufwand ist enorm, die Strafen sind hoch. Was den Unternehmen helfen kann.

Was steckt drin in der Lieferkette? Das neue Gesetz fordert Dokumentation bis in die letzten Verzweigungen. Bildquelle: © picture alliance / AP Photo | Mark Reis

„So macht man die Unternehmen systematisch kaputt!“ Den Topmanager eines Konsumgüterherstellers verärgert, dass die strengen Regeln des neuen deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) nicht für alle gelten. Seit Januar müssen deutsche Unternehmen ihre Zulieferer bis in den hintersten Winkel der Welt danach durchleuchten, ob sie Umweltschutz, Arbeitsschutz und Menschenrechte beachten. Wettbewerber aus Asien plagen diese aufwendigen Vorgaben nicht.

Für ausländische Unternehmen mit Zweigniederlassung in Deutschland gilt das Lieferkettengesetz, wenn die Zweigniederlassung mindestens 3000 und ab 2024 mindestens 1000 Beschäftigte umfasst. Viele Konkurrenten könnten ihre Produkte also herstellen und verkaufen, ohne die Regeln zu beachten – und vor allem ohne Kontrollen. Entsprechend fürchten viele heimische Unternehmen erhebliche Wettbewerbsnachteile. „Wenn wir so weitermachen, finden unsere Kinder in unseren Betrieben keine Arbeit, weil Letztere verschwunden sind“, klagt der Manager, der aus Konzernraison nicht genannt werden will.

Viele Unternehmen hoffen insgeheim, dass die EU-Lieferkettenrichtlinie, die derzeit in Brüssel vorbereitet wird, solche Webfehler aus der Welt schafft. Allerdings scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Katharina Göbel, die Brüsseler Vertreterin des Unternehmerverbands Baden-Württemberg, erwartet eher eine Verschärfung. Das fürchtet auch das Wirtschaftsministerium in Stuttgart. Man setze sich dafür ein, dass die EU nicht über ihr gesetztes Ziel hinausschieße und „unsere Unternehmen nicht noch mehr belastet werden“, teilt die Behörde von Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) mit.

Das deutsche Lieferkettengesetz hat in der Praxis erhebliche Tücken: Seit Januar 2023 soll jedes Unternehmen dafür sorgen, dass bei ihm nur Zulieferer zum Zuge kommen, die sich an die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte halten. Definiert ist aber lediglich der grobe Rahmen. Eine klare Systematik gibt es genauso wenig wie ein einheitliches Vorgehen. So sehen sich inzwischen viele Lieferanten mit einer Vielzahl von individuellen Vorgaben ihrer Kunden konfrontiert. „Die müssen die Geschäftsführer jeweils einzeln juristisch prüfen lassen, bevor sie zustimmen oder nachverhandeln“, erklärt Judith Herzog-Kuballa, die das Thema beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) betreut.

Personalintensiver Papierkrieg

Aber auch die Banken machen Druck. Die Kreditinstitute müssen gemäß den Taxonomie-Vorgaben prüfen, wie nachhaltig die Kunden aufgestellt sind. Dafür hat jede Hausbank einen eignen Fragenkatalog entwickelt, womit ein auf beiden Seiten personalintensiver Papierkrieg verbunden ist.

Der Hausgerätehersteller Bosch-Siemens muss beispielsweise weltweit bei 40.000 Lieferanten den hauseigenen Verhaltenskodex durchsetzen und, dass die Menschenrechte eingehalten werden. Überprüft wird zunächst über Selbstauskünfte und systematische „Quick Scans“. „Darüber hinaus wird ein ,Corporate Social Responsibility Audit‘ durch unabhängige, international anerkannte Auditoren durchgeführt“, berichtet das Unternehmen auf Anfrage. Es geht vor allem um die Arbeitsbedingungen, ob sich Lieferanten an den UN Global Compact halten. Untersucht werden auch weiterführende Kriterien zu Umwelt- und Energiemanagement. Direkte Lieferanten werden zusätzlich vertraglich verpflichtet, den Verhaltenskodex auch bei Sublieferanten einzufordern und zu überprüfen.

Spätestens in dieser Verästelung wird deutlich, dass der deutsche Unternehmer kaum kon­trollieren kann, was an den Kapillarenden der Lieferkette geschieht. „Da müssen wir uns auf die Unterlagen und Zertifikate der Lieferanten verlassen“, gibt Andreas Helber, Finanzchef des Energie- und Agrarhändlers BayWa, zu. Gleichwohl seien im Unternehmen Hunderte von Mitarbeitern weltweit aktiv, um die Lieferanten zu prüfen und somit die Vorgaben zu erfüllen. „Es wird viel Aufwand getrieben mit einer riesigen Datenmenge“, gibt VDMA-Expertin Herzog-Kuballa zu bedenken.

Was derart komplex zu erfassen ist, wird kaum zu kontrollieren sein, sagen viele hinter vorgehaltener Hand. Das gerade entstehende Dokumentationsmonstrum soll das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) ab Juni 2024 überwachen. Auf dessen Webseite (www.bafa.de) sind auch Kriterien für Lieferketten aufgeführt. Wie die Prüfung im Einzelnen abläuft und wer am Ende die Beweislast hat, ist noch offen. Wohl auch, weil die Behörde die geplante Stärke von 5000 Beschäftigten erst 2029 erreichen wird. Schon jetzt schiebt man den Schwarzen Peter den Unternehmen zu: „Das Bafa hat in Ausnahmefällen die Möglichkeit, zur Aufklärung von Rechtsverstößen im Ausland tätig zu werden. Die Unternehmen sind selbst in der Aufklärungs- und Berichtspflicht, und das Bafa kontrolliert sehr genau, wie sie der Aufklärungspflicht nachkommen“, heißt es beim Bundeswirtschaftsministerium auf Anfrage.

Der VDMA kritisiert, dass Mittelständlern mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von mehr als 400 Millionen Euro Geldbußen von bis zu zwei Prozent davon drohen. Ein Zwangsgeld von 50.000 Euro kann noch hinzukommen. „Zudem ist in dem Gesetz nicht eindeutig festgelegt, wann genau welche Sanktionen drohen“, heißt es in einem Positionspapier aus dem vergangenen März. Der VDMA fordert deshalb einen klaren Orientierungsrahmen für das gesetzlich vorgeschriebene unternehmerische Verhalten. Tatsächlich verwendet der Gesetzgeber den Begriff der „Angemessenheit“. Man ahnt es schon: Am Ende werden die Gerichte klären müssen, was der Gesetzgeber schwammig vorgegeben hat.

Viele Unternehmen werden zu einer Art kontrolliertem Blindflug gezwungen. Denn der Maschinenbauer auf der Schwäbischen Alb ist im Zweifel auf Teile aus China angewiesen, egal ob man sich dort um Versammlungsfreiheit oder Menschenrechte schert. Den erhobenen deutschen Zeigefinger nimmt man dort allenfalls schmunzelnd zur Kenntnis. Also Augen zu und durch? Oder droht den Unternehmen doch noch eine Strafe? Der VDMA fordert, nur grobe Fahrlässigkeit zu sanktionieren. Geldstrafen sollten sich nicht am Gesamtumsatz des Unternehmens orientieren, weil das für Mittelständler mit einer geringen Gewinnmarge existenzbedrohend sein könnte.

Unternehmen können sich mit technologischen Hilfen und einer neuen Betriebsstruktur mehr Sicherheit vor der bürokratischen Kontrollwut verschaffen. Es geht darum, Lieferketten digital zu erfassen und für Datentransparenz zu sorgen. Was einfach klingt, bedeutet für viele Mittelständler einen Kulturbruch und ist handwerklich schwierig umzusetzen. So mancher Unternehmer reagiert gereizt auf Schlagworte wie Resilienz, Nearshoring oder Multisourcing.

Knut Alicke, Experte für Lieferketten des Beratungsunternehmens McKinsey, sieht die klare Tendenz, dass Mittelständler inzwischen an das Thema herangehen wie die großen Konzerne. „Die Fragen sind ähnlich, und auch bei den KMU wird die Planung professionalisiert. Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung.“ Viel zu oft lägen unterschiedliche Aufgaben rund um die Lieferkette bis hin zu den Prozessen, der IT und der Umsetzung des neuen Lieferkettengesetzes bei nur einer Person. „Das war und ist hochriskant.“

Das bedeutet auch, mehr in Weiterbildung zu investieren: „Zu viel Wissen in den Betrieben ist noch immer erfahrungsbasiert. Das ist das Gegenteil einer planvollen Weiterentwicklung der Führungskräfte und Belegschaft“, sagt Alicke. Er rät den Betrieben, sich darüber klar zu werden, wie viele Silos es im eigenen Unternehmen gibt, etwa im Einkauf und Verkauf. Zudem gehe es um das Wissen, wie Machine Learning nicht nur die Produktion, sondern auch die Beschaffung optimieren könne.

Gerade im traditionell margenschwachen Logistikgeschäft gewinnt das Internet of Things immer mehr Bedeutung. Dort hat sich das Investment lange nicht gelohnt. Doch jetzt verlangen die Kunden mehr Transparenz und erhöhen damit den Druck zur Veränderung. Also bekommen Container und Lkw-Anhänger Tracker, um in Echtzeit aufzuzeichnen, wo sich Material und Produkte befinden. Mit solchen Daten lassen sich bessere Dispositionen treffen. Solche Technologien kommen mal von Start-ups, mal aber auch von den großen Software-Häusern.

Für den Branchenriesen SAP ist das Thema Lieferketten „sehr bedeutend und aktueller denn je“, wie es Andre Bechtold, Head of Solution & Innovation Experience, beschreibt. „Wir reden darüber im Moment in praktisch jedem Kundengespräch.“ Im Kern geht es darum, dass Mittelständler mit digitalen Lieferketten Geschäftsrisiken ganzheitlich steuern und mindern können. Ideal ist eine Software für das Lieferkettenmanagement, die alles erfasst: Entwicklung, Planung, Fertigung, Lieferung und Betrieb. Die Technologie macht es möglich, bei neuen Produkten den ökologischen Fußabdruck sehr frühzeitig zu ermitteln. Schon wenn ein Produkt gestaltet wird, lassen sich Fragen beantworten wie: Mit welchem Lieferanten werden möglichst wenige oder möglichst lokale Rohstoffe verbraucht?

„Am Ende wird das Reporting entscheidend sein“, bestätigt VDMA-Expertin Herzog-Kuballa. Dabei müssen die Unternehmen begründen, wie sie ihren Pflichten nachgekommen sind. Wirtschaftsprüfer müssen die Angaben untersuchen und zertifizieren. Nach welchen Kriterien, ist noch unklar, denn dazu fehlt das Fachwissen. Das könnte dazu verleiten, sich mit schlampigen oder gar gefälschten Zertifikaten aus der Affäre zu ziehen. „Ich muss dringend davor warnen zu betrügen“, mahnt Peter Schneider, Chef des Sparkassenverbands Baden-Württemberg. Wer beim „Greenwashing“ erwischt werde, müsse mit erheblichen Nachteilen rechnen.

Entsprechend kommen auf Betriebe und Geschäftsführer auch neue Anforderungen zu im Hinblick auf ihren Versicherungsschutz. Fachleute raten, das Risikomanagement bei den durch das Lieferkettengesetz aufgeworfenen Fragen zu erweitern: präventive Maßnahmen, Einführung eines Beschwerdemanagements, Kontrolle der Arbeits- und Herstellungsbedingungen bei Zulieferern im Ausland – und sich für Bußgelder absichern. „Die Unternehmen sollten ihre D&O-Versicherungsverträge von ihrem Makler prüfen lassen, inwieweit sie Bußgelder umfassen oder zumindest der Regress von Bußgeldern vom Versicherungsschutz umfasst ist“, sagt Philipp Rouget vom Makler- und Beratungsunternehmen WTW. „Falls nicht, sollte die Lücke durch die Vereinbarung entsprechender Regelungsinhalte zu Bußgeldern im D&O-Versicherungsvertrag geschlossen werden.“ Ob der Regress von Bußgeldern zulässig ist, ist noch nicht höchstrichterlich entschieden. Weitere Anpassungen am Vertrag könnten also notwendig werden.

Versicherungen können auch nur die Schäden mildern, die entstehen, wenn ein Unternehmen das Thema Lieferkette schlampig angeht. Trotz aller Unwägbarkeiten gilt wie fast immer: Etwas unternehmen statt abwarten.

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