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Personal > Kaum Fortschritt bei der Gleichberechtigung

Der große Selbstbetrug

Fast alle Manager glauben, dass Frauen in ihrem Unternehmen dieselben Aufstiegschancen haben wie Männer. Dabei sagen alle Zahlen das Gegenteil. Warum es kein Weiter-So geben kann und was Betriebe jetzt tun sollten.

Lässig im Pool: Mädchen und Jungen sollten später im Job gleichberechtigt werden - derzeit ist es noch nicht so.© Katrina Elena/Shutterstock.com

Der Befund ist klar: Bei den Themen „Frauen in Führungspositionen“ und „Equal Pay“ steht Deutschland im jährlich erhobenen Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums nahe Platz 100. Die Deutschen haben damit das Niveau eines Entwicklungslandes. Nur sie merken es offenbar nicht. Jasmin Arbabian-Vogel, Präsidentin des Verbandes deutscher Unternehmerinnen, kommt zu dem Schluss: „Die Schizophrenie beim Thema Diversity ist, dass sich alle einig sind, man aber eben nicht das tut, was man tun will. Die Rahmenbedingungen stimmen nicht, und das hat gesetzliche, gesellschaftliche und individuelle Gründe.“

Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden sich vor allem so sehr, weil sich hier eine Gesellschaft selbst belügt. Immerhin: Das Problem ist lösbar. Dazu allerdings müssen Politik und Wirtschaft, dazu müssen die Menschen, sich nicht länger selbst etwas vormachen. Hier sind die fünf wesentlichen Fehlbewertungen, die es anzugehen gilt.

Selbstbetrug Nummer 1: Es tut sich was

Zu den handfesten Kennziffern, an denen man den Grad der Gleichberechtigung von Männern und Frauen im beruflichen Kontext ablesen kann, gehört die Teilzeitquote: Zwei von drei Frauen arbeiten hierzulande nicht Vollzeit, aber nur jeder 14. Vater. Diesbezüglich hat sich seit zehn Jahren praktisch nichts getan. Das hat hauptsächlich, aber bei Weitem nicht nur mit der Kindererziehung zu tun: Auch auf jeden Mann ohne Kind, der in Teilzeit arbeitet, kommen drei kinderlose Frauen in Teilzeit. Auch bei der Bezahlung gibt es erhebliche Ungleichgewichte, was man am sogenannten Gender-Pay-Gap ablesen kann: Frauen verdienen pro Stunde 18 Prozent weniger als Männer, bei vergleichbaren Tätigkeiten, Qualifikationen und Erwerbsbiografien sind es sieben Prozent.

Eine weitere sehr wesentliche Kennziffer ist, dass Männer nur zehn Prozent der Elternzeit in Anspruch nehmen, Frauen 90 Prozent. Im Hinblick auf den Anteil von Frauen in Führungspositionen gibt es einen klaren Trend: Je kleiner die Unternehmen werden, desto niedriger ist er – der deutsch-schwedischen Allbright Stiftung zufolge sind es derzeit im Deutschen Aktienindex Dax 23,3 Prozent, im MDax der mittelgroßen Werte 12,8, im Kleinwertesegment SDax 14,0 und bei Familienunternehmen 8,3 Prozent.

Wiebe Ankersen, Co-Geschäftsführerin der Allbright Stiftung, weist darauf hin, dass lediglich bei den börsennotierten Konzernen leichte Veränderungen gibt: „Der Frauenanteil im Topmanagement der Familienunternehmen hat sich zwischen 2020 und 2022 nicht erhöht, er stagnierte. Obwohl in diesem Zeitraum genauso viel neu rekrutiert wurde wie im Dax, nur eben so gut wie keine Frauen.“ Irritierend: Die Studiengänge, aus denen sich Führungskräfte rekrutieren, belegen junge Frauen und Männer jeweils zur Hälfte. Wo zig Karrieren von Frauen eine entscheidende Delle bekommen, ist weitgehend bekannt – vor allem beim ersten Kind. Jedoch gab es in der Breite der Gesellschaft nur halbherzige Versuche, dies zu ändern.

Das gilt auch für viele Unternehmen – bisher. Gerade mittelständische Betriebe müssen sich stärker bewegen. Das liegt zum einen am Personalmangel: Es ist schwieriger geworden, Arbeiter, Fach- und Führungskräfte zu bekommen. Zum anderen nimmt der Druck von Investoren, ­Banken und Kunden zu, divers aufgestellt zu sein. Und nicht zuletzt erfordert die Nachhaltigkeitsregulatorik auch Maßnahmen für Geschlechtergerechtigkeit. Spätestens von 2024 an kommen Berichtspflichten für Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern, auf die sich die Betriebe schnell vorbereiten sollten.

Es hat sich bisher also wenig getan. Allerdings besteht die Chance auf Besserung.

Selbstbetrug Nummer 2: Wir sind familienfreundlich

Es gibt viele Gründe, warum Frauen ihre Karriere abbrechen. Der wesentliche: Die Familienarbeit ist ungleich verteilt. Die Karrierewege von Männern und Frauen gehen in dem Moment auseinander, wo Kinder ins Spiel kommen: „Viele Frauen arbeiten unter ihrem Niveau oder in geringer Teilzeit – entweder weil man ihnen die Führungsposition nicht zutraut oder weil sie sehen, dass ein gelungenes Familienleben in Deutschland meist noch schwer mit einer Führungsposition zu vereinbaren ist“, fasst Ankersen die Studien der Allbright Stiftung zusammen. „Wir brauchen also ein Update der Hardware: bessere Vereinbarkeit für Männer und Frauen. Und ein Update der Software: gleiche Erwartungen an und Beurteilung von Männern und Frauen.“ Umfragen belegen, dass beinahe 100 Prozent der Eltern Deutschland für nicht oder wenig familienfreundlich halten.

Verschiedene Wege können die Lage verbessern. Das Ehegattensplitting bei der Einkommensteuer zum Beispiel setze heute noch einen starken Fehlanreiz und zementiere ein veraltetes Modell von „Er macht Karriere, und sie verdient etwas hinzu“, sagt Ankersen von der Allbright Stiftung und spricht damit den allermeisten Fachleuten aus der Seele. Auch mehr Betreuungseinrichtungen ist eine Klassikerforderung. Dessen ungeachtet gibt es große Hebel im Verhalten jeder und jedes Einzelnen und der Führungskräfte in Firmen.

Für Betriebe stellt sich zum Beispiel die Frage, wie man Frauen und Männer trotz der familiären Belastung und gegebenenfalls mit Teilzeitmodellen zurück in die Karrierespur bekommt. Für Anne von Fallois, Expertin für Diversity bei der Personal- und Managementberatung Kienbaum, sind Begleitung auch während der Off-Phase und Mentorenprogramme gut, aber nicht alles: „Im entscheidenden Moment, wenn es darum geht, eine neue Rolle einzunehmen, braucht man jemanden, der oder die sagt: Die kann es. Die will ich!“ Dass es hier krankt, zeigt der bekannte Spruch „Women are overmentored but undersponsored“ – Frauen sind überbetreut, aber wenig unterstützt.

„Wir müssen uns von all diesen Märchen frei machen, zum Beispiel, dass Führung nur in Vollzeit möglich ist. Das ist völliger Unsinn. Top-Sharing tut allen gut“, rät Arbabian-Vogel vom Unternehmerinnenverband. Sie leitet selbst einen Betrieb. „Firmen müssen Gewohnheiten etablieren und Diversität wirklich leben. Es ist harte Arbeit herauszufinden, welche Stereotype es im Unternehmen gibt.“ Stereotype „spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Verfestigung von Vorurteilen und Diskriminierung“, sagt Isabel Welpe, Professorin an der TU München.

Stereotypen bieten eine einfache Art, um die Welt und die Menschen in ihr zu verstehen und zu kategorisieren, führen aber eben auch dazu, dass wir Männer und Frauen in Schubladen stecken: Man nimmt die individuellen Eigenschaften einzelner Personen nicht mehr hinreichend wahr. „Das führt zum Beispiel dazu, dass wir männliche Führungskräfte, die um Hilfe bitten, als schwach wahrnehmen – und weibliche Führungskräfte, die entscheidungsstark auftreten, als aggressiv und feindselig“, sagt Welpe.

 

Selbstbetrug Nummer 3: Das Management zieht mit

Gleichberechtigung geht nicht ohne absolute Unterstützung von ganz oben. Doch genau hier schlägt der große Selbstbetrug zu, sagt Maren Wölfl, Business-Coach und Autorin. „Gerade im Mittelstand glauben viele, Frauen wären bei ihnen im Betrieb vollkommen gleichberechtigt.“ Firmen handelten oft egoistisch und sähen nicht das große Ganze, sagt die erfahrene Beraterin, die gerade mit ihrem Buch „Kind und Karriere – es geht beides!“ für Aufmerksamkeit sorgt. „Es ist ihnen lieber, dass der Partner oder die Partnerin, die in einem anderen Unternehmen arbeitet, die Familienarbeit übernimmt. So wird es aber nicht funktionieren.“ Die eine Frau in der Führungsriege zu haben, sei wichtig, aber nicht alles: Es brauche auf allen Ebenen klare Ziele und Prozesse.

Wer mit Fachleuten spricht, bekommt nicht den Eindruck, dass die Entscheidungsträger in mittelständischen Firmen in der Breite wirklich Frauen an der Spitze wollen. Es gebe eine leicht erhöhte Nachfrage, und es sei auch bekannt, dass Frauen im Vorstand eine Vorbildwirkung hätten und weitere weibliche Talente anzögen, sagt Marco H. Neumueller, Partner bei der Personalberatung Odgers Berndtson. Aber er sieht tagtäglich, dass der Teufel im Detail steckt: Zu unterschiedlich darf die Kandidatin nämlich nicht ticken. „Tatsächlich stelle ich in meinen Suchverfahren häufiger fest, dass man sehr klare Vorstellungen von der zu suchenden Person hat.“

Gerade im Mittelstand sei neben der Qualifikation der „Cultural Fit“ einer Person entscheidend, sagt Neumueller. Sie muss kulturell ins Unternehmen passen. Aber tatsächlich stellt Thomas am liebsten Thomas ein – oder noch lieber „Thomaschen“, also ein etwas weniger leistungsfähiges Abbild von sich selbst. „Auch wenn zahlreiche Studien belegen, dass Diversität ein wichtiger Faktor des Geschäftserfolgs ist, fühlt sich der Mensch zu dem hingezogen, was einem ähnlich ist“, sagt Neumueller.

Dazu kommt das Problem, dass interne Lösungen mit Frauen schwierig sind, weil nur wenige Kandidatinnen zur Verfügung stehen. Ein gut gefüllter Talent-Pool setzt voraus, dass Frauen entsprechend eingestellt und entwickelt werden. „Doch genau diese funktionierende Personalentwicklung und eine langfristige Nachfolgeplanung vermisse ich häufig genug in Unternehmen“, sagt Berater Neumueller. Unternehmen sollten auch für Frauen attraktive Angebote schnüren, beispielsweise Führungspositionen mit zwei Frauen besetzen, die selbst jeweils einem Teilzeitjob nachgehen. „Vieles geht, wenn man wirklich möchte“, betont Neumueller.

Selbstbetrug Nummer 4: Die gute Mischung macht’s

Gemischtgeschlechtlich aufgestellte Teams und vielfältige Belegschaften machen Unternehmen erfolgreicher. So oder so ähnlich lautet die Interpretation vieler Studien der großen Beratungshäuser zu Diversität und Frauen in Führungspositionen. Doch „ganz so einfach ist es dann doch wieder nicht“, sagt Robert Franken, früher selbst Vorstandsmitglied sowie Geschäftsführer und heute Berater. „Wenn sich Mittelständler in Zeiten von Personal- und Fachkräftemangel hier gut aufstellen wollen, dann sollten sie hier tiefer einsteigen.“

Rein nummerische Gleichberechtigung ist nicht alles. „Obwohl Vielfalt in Teams und Organisationen in der Regel als positiv angesehen wird, ist es wichtig zu verstehen, dass Vielfalt allein keine Garantie für Erfolg ist“, sagt Diversitätsexpertin Welpe von der TU München. Es gehe um die richtige Art der Vielfalt, der relevanten Kompetenzen über alle demografischen Aspekte hinweg. Vor allem müssten Teams und Organisationen eine Kultur schaffen, in der alle Mitglieder ihre Stärken und Ideen auch wirklich einbringen könnten und eine Offenheit für diverse Meinungen bestünde. Entscheidend ist Welpe zufolge das subjektive Gefühl der Zugehörigkeit.

Diversitäts- oder Unconscious-Bias-Trainings sind das wesentliche Mittel der Wahl – Betriebe geben Milliarden dafür aus. Diese Kurse schaffen zwar ein Bewusstsein, „haben häufig aber lediglich eine kurzfristige Wirkung auf Einstellungen, jedoch nicht auf Verhalten“, sagt Welpe unter Bezug auf die verfügbaren Zahlen. Um mit solchen Seminaren positive und langfristige Effekte zu erzielen, sollten diese freiwillig und vor allem in eine übergeordnete Diversitätsinitiative eingebettet sein, die das Wissen aus den Trainingseinheiten strukturell unterstütze und nachhaltig verankere.
Marion Festing, Professorin für Human Re­ssource Management und Intercultural Leadership an der ESCP Business School Berlin, plädiert für eine „moderne Denkweise“, die alternative Karrierewege berücksichtigt und diese Fragen beantwortet: „Wie bewerte ich Lebensläufe mit vermeintlichen Brüchen? Wie gliedere ich Leute in Teilzeit optimal ein? Sehe ich die Vorteile von Job-Sharing-Formaten?“ Im Kern gehe es darum, „Arbeitszeit flexibler zu denken“. Die Professorin mag das Modell des Softwarekonzerns SAP, wo die meisten neuen Stellen grundsätzlich mit 75 Prozent Arbeitszeit ausgeschrieben sind und man die 100 Prozent gesondert beantragen muss.

Anne von Fallois betont die Macht von innerbetrieblichen Ritualen, die im Alltag Gleichberechtigung erschweren: „Nehmen wir zum Beispiel die überkommene Gewohnheit der Besprechung nach der Besprechung: Frauen gehen nach dem Meeting wieder an den Schreibtisch, während die Männer sitzen bleiben und informell Absprachen treffen“, sagt die Kienbaum-Beraterin. Erfolgskritisch für einen guten Mix sei zudem, nicht mehr nach dem Ähnlichkeitsprinzip einzustellen. Wer bei Beförderungen und Neueinstellungen Offenheit für Vielfalt und Fairness herstellen will, braucht kulturprägende Prozesse. „Gespräche mit Kandidatinnen sollten möglichst von gemischten Teams mit unterschiedlichen Perspektiven geführt und ausgewertet werden“, sagt von Fallois. Sie sieht aber auch eine Bringschuld bei den Frauen: Wenn sie eine Führungsrolle bei einem neuen Arbeitgeber übernehmen, sollten sie „ihr Onboarding sorgsam planen und sich dafür Zeit nehmen, um wirklich den Stallgeruch der Organisation anzunehmen“.

 

Selbstbetrug Nummer 5: Wir haben die Kultur verändert

An großen Worten, wie wichtig man Gleichberechtigung nehme, mangelt es praktisch bei keinem Unternehmen. Fachleute wie Robert Franken differenzieren aber: „Hier muss man durchaus auch skeptisch draufblicken, ob die Betriebe unter Umständen einen Culture-Gap produzieren.“ Es gebe oft eine große Kluft zwischen der propagierten Kultur und der Kultur, die tatsächlich gelebt werde. „Wenn diese Kluft zu groß wird, dann kann es sehr problematisch werden für Bindung oder Mitarbeiterwerbung“, sagt der erfahrene Berater. Viele Mittelständler planen ihm zufolge keinen tiefgehenden Kulturwandel, auch weil die Regulatorik sie noch nicht dazu anhält. „Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen brauchen die Überzeugung, dass es sinnvoll ist, mehrere Perspektiven einzubeziehen, wenn man für große Herausforderungen nach Lösungen sucht.“

Viele Mittelständler hätten bisher andere Prioritäten gesetzt, sagt Franken. Ein erster Schritt hin zu einer inklusiven Unternehmenskultur ist für den Berater ein qualitativer Audit, der von Transparenz und Vertrauen geprägt ist. Die eigene Organisationskultur offenzulegen, sei ein schmerzhafter Prozess. Wer Kultur als Summe von Haltungen, Gewohnheiten und formellen wie informellen Prozessen definiere, müsse sich erst fragen, wie sich diese Elemente im Unternehmen zeigten. „Man muss ja nicht Perfektion als Ziel haben“, rät Franken. „Aber Betriebe dürfen eben auch nichts glätten oder schön anmalen, sondern müssen die Brüche einigermaßen schonungslos identifizieren.“ Das Thema sollte entsprechend ganz oben verankert sein, auch wenn die Geschäftsführung nicht mit in der Arbeitsgruppe sitzen müsse. „Aber es braucht eine Bereitschaft dafür zuzulassen, dass man selbst bei bester Absicht gegebenenfalls Teil eines Problems ist“, sagt Franken und meint damit auch die Reflexion von eigenen Privilegien oder denen anderer, vor allem männlicher Topführungskräfte.

An regelmäßigen Mitarbeiterbefragungen kommen Arbeitgeber nicht vorbei. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten und intelligente Fragesysteme. Die Auseinandersetzung mit der Frage „Warum bin ich, wie ich bin?“ ist hingegen schwierig. „Warum triggern mich bestimmte Dinge auf eine bestimmte Art und Weise? Warum habe ich Vorbehalte gegenüber bestimmten Gruppen? Das ist nichts, was du einfach so abstellen kannst, sondern du musst dich damit auseinandersetzen, wo bestimmte Dinge herkommen“, sagt Franken. Kein Zwei-Tage-Seminar könne diese innere Arbeit ersetzen. Aber sie zahle sich aus.

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