Wie die Zukunft der Arbeit aussehen könnte
Die Krise auf dem Arbeitsmarkt geht deutlich tiefer, als viele meinen. Bestsellerautorin Sara Weber fordert ein radikales Umdenken. Ein Rettungsversuch in sieben Akten.
Kickertische, Yogakurse, Homeoffice, flexible Arbeitszeiten, krachende Betriebsfeiern (gern auch verbunden mit kostspieligen Reisen), kostenloses Mittagessen, Purpose-Offensiven, Sportangebote, Weiterbildung auf einem völlig neuen Niveau, Buddy-Systeme, Reverse-Mentoring, betriebliche Altersvorsorge – und natürlich der unverwüstliche Dienstwagen oder alternativ das E-Bike nebst Jobticket. Die Liste der Maßnahmen lässt sich fortsetzen und wächst stetig. Noch nie wurde so viel getan für das Wohl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das mag nicht gänzlich freiwillig passiert sein, sondern durch den Druck auf einem teilweise leer gefegten Arbeitsmarkt.
2021 prägte Stepstone-CEO Sebastian Dettmers den Begriff „Arbeiterlosigkeit“, den gerade viele junge Menschen gern hören: Wir werden gebraucht und können uns aussuchen, wo wir hingehen. Und wenn uns was nicht passt, wechseln wir schneller, als der nervige Vorgesetzte „Kündigung“ buchstabieren kann. Dazu kommen die Nachhaltigkeitsberichte mit klaren Forderungen, die jetzt schon für börsennotierte Unternehmen gelten und von 2024 an auch für immer mehr mittelständische Betriebe. Dazu zählen ebenfalls soziale Standards.
So weit, so bekannt. Und doch ist es nur die halbe Wahrheit. Denn der Zustand des deutschen Arbeitsmarktes ist weitaus komplexer und vor allem paradox. Noch nie haben die Unternehmen so viel für ihre Leute getan, zumindest auf dem Papier. Doch genau zu diesem Zeitpunkt sind die Menschen so oft krank, unzufrieden und unmotiviert wie praktisch noch nie, seit die Laune gemessen wird. Umfragen und Studien zeigen, dass Millionen mit ihren Vorgesetzten, mit ihrer Tätigkeit und mit ihrer Belastung hadern.
Sinnbildlich dafür steht der Erfolg von Sara Webers Buch „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“. Dafür erhielt die 1987 geborene Tochter einer Deutschen und eines Amerikaners den Leserpreis beim Wirtschaftsbuchpreis 2023. Kein anderes Werk kam beim – übrigens als sehr liberal einzustufenden – Publikum besser an. Zitat: „Corona-Pandemie, Krieg in der Ukraine, Klimakrise – die Welt steht in Flammen. Und wir? Brennen aus, um bloß keine Deadline zu reißen. Warum tun wir uns das an?“ Sara Weber kennt sich mit Karrierethemen bestens aus, war Redaktionsleiterin der Plattform LinkedIn. Arbeitgeber mögen mit dem Kopf schütteln und darauf verweisen, dass sie gerade andere Sorgen haben. Aber Webers These „Die Arbeitswelt funktioniert so einfach nicht mehr“ ist in der Welt und wird von sehr vielen Beschäftigten geteilt.
Über einige Grundannahmen streitet selbst die Wissenschaft. Steigt die Zahl von psychischen Erkrankungen, weil die Menschen heute häufiger zum Arzt gehen mit ihren Problemen? Oder liegt es wirklich an der entgrenzten Arbeit mit 16-Stunden-Arbeitsmails-Bearbeiten auf dem Mobiltelefon? Für Weber, die für ihr Buch tatsächlich Berge von Büchern und Forschungsergebnissen studiert hat, war die Corona-Pandemie ein Beschleuniger dieser Entwicklung, die sie keineswegs einer Ausbeuterei der Arbeitgeber in die Schuhe schiebt. „Die professionelle Wirkungskraft ist reduziert. Wir arbeiten und arbeiten, schaffen aber kaum noch etwas.“ Die Distanz zum Job nehme zu, was Zynismus fördere.
Webers Lösung lautet kurzgefasst, sich gegen die Arbeitgeber zu organisieren. „Wir sind nicht an unserer eigenen Erschöpfung schuld, sondern werden in sie hineingedrängt. Deshalb müssen wir sie zurückdrängen.“ Das bedeutet mehr Betriebsräte, mehr Macht für Gewerkschaften. Und mehr Umverteilung. Menschen müssten genug Geld verdienen, um nicht nur irgendwie über die Runden zu kommen, sondern um keine Angst vor der Zukunft haben zu müssen. Neben Geld ist Zeit für Weber der wesentliche Faktor. „Wir müssen der Kultur der Überarbeitung ein Ende setzen. Es kann nicht sein, dass es als cool und produktiv angesehen wird, ständig die eigenen Grenzen zu überschreiten.“ Man solle kürzere Arbeitszeiten fordern, mehr echte Flexibilität, gerechte Arbeitsbedingungen.
Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, hat naturgemäß eine ganz andere Sicht auf die Dinge: „Ich befürchte, die ganze Gesellschaft hat durch staatliche Fürsorge, durch Rettungsprogramme, Doppel-Wumms und alle möglichen Formen der staatlichen Abfederung vergessen oder verlernt, dass das Geld auch erwirtschaftet werden muss. Dass es am Ende von unser aller eigener Leistung abhängt. Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit.“
An schnittigen Zitaten und Emotionen mangelt es bei der Diskussion nicht. Unstrittig sind folgende Fakten: Dem arbeitgebernahen Institut für Wirtschaftsforschung (IW) zufolge gab es 2022 rund 1,34 Millionen offene Stellen und 970.000 Menschen auf Jobsuche. Die Differenz von 370.000 ist besorgniserregend genug, aber beim Blick auf die gewünschten Qualifikationen wird das Problem noch weitaus größer. In Wirklichkeit ließen sich 630.000 Stellen nicht besetzen, weil die benötigten Kompetenzen fehlten.
Es mangelt für alle auf dem deutschen Arbeitsmarkt an Vereinbarkeit: Viele Beschäftigte verzweifeln bei dem Versuch, sich zwischen Traumjob, finanzieller Sicherheit und Gesundheit so zu entscheiden, dass sie gut damit leben können. Und die Unternehmen müssen den Spagat zwischen Performance und Mitarbeiterzufriedenheit meistern, was in Krisenzeiten schwer genug ist, aber vom Personalmangel noch verschlimmert wird. Die gut drei Millionen Sandwichführungskräfte stecken dazwischen. Und bei all dem leidet die Gesellschaft unter der Asymmetrie, dass die Anspruchshaltung schneller stieg, als sich die Art, wie wir arbeiten, verändern konnte. Es wird eben noch dauern, bis Roboter und künstliche Intelligenz die unangenehmen und eintönigen Arbeiten übernehmen. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt sind komplex. Aber sie lassen sich lösen. Eine Analyse in sieben Kapiteln.
1. Die hohe Teilzeitquote
Dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge werden bis 2035 mehr als sieben Millionen Erwerbstätige aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und deutlich weniger nachrücken. Um die Lücke zu schließen, hat das IW bereits 2019 längere Arbeitszeiten vorgeschlagen und Schweden sowie die Schweiz zu Vorbildern erklärt. Die Eidgenossen arbeiten im Durchschnitt zwei Stunden mehr pro Woche als Deutsche – und haben zwei Wochen weniger Urlaub pro Jahr. Würde Deutschland dem Beispiel folgen, kämen mehr als 7,5 Milliarden zusätzliche Arbeitsstunden pro Jahr zusammen. Derzeit arbeiten die Bundesbürger insgesamt rund 66 Milliarden Stunden.
Die Arbeitszeitverkürzung der vergangenen Jahre gepaart mit kaum steigender Arbeitsproduktivität kann dem Standort angesichts der demografischen Entwicklung stärker zusetzen als die hohen Energiekosten.
Sind die Deutschen fauler als der Rest? Kommt drauf an. 34,6 Stunden arbeitet ein Erwerbstätiger im Schnitt in der Woche, das ist der drittletzte Platz in Europa. Betrachtet man aber nur die Erwerbstätigen in Vollzeit, liegt Deutschland mit 39,5 Wochenstunden im oberen Drittel. Das Problem ist die hohe Teilzeitquote – mit 29 Prozent eine der höchsten innerhalb der EU. Deutschlands Stärke, der hohe Frauenanteil auf dem Arbeitsmarkt, wirkt sich in der Statistik negativ aus. Frauen arbeiten im Schnitt nur 21,4 Stunden pro Woche. Beschäftigte in Vollzeit wollen gern weniger arbeiten, die in Teilzeit länger – hier gibt es reichlich ungenutztes Potenzial.
Durch den Abbau unfreiwilliger Teilzeit würde sich das jährliche Arbeitsvolumen um 691 Millionen Stunden erhöhen, wie das IW errechnet hat. Hier wird allerdings oft übersehen, dass heute viel mehr Kinder von Alleinerziehenden großgezogen werden oder in Familien, in denen beide Elternteile arbeiten. Und dass der demografische Wandel eben auch bedingt, dass immer weniger Kinder immer mehr ihrer greisen Eltern pflegen müssen.
2. Die Produktivitätsfalle
Der renommierte Sozialpsychologe David Price hat den Begriff „Faulheitslüge“ geprägt und meint damit die Schuldgefühle, die viele empfinden, wenn sie „nicht genug“ tun. Die meisten Menschen leben in der Illusion, jede Minute des Arbeitslebens produktiv sein zu müssen – oder zu können. Diesen Druck haben viele inzwischen auch auf die Freizeit übertragen, wodurch die Erschöpfung zusätzlich steigt. Price sagt: „Egal, wie viel wir erreicht oder gearbeitet haben, wir glauben nie, dass wir eine Pause verdient haben.“ Dabei existiere die Faulheit gar nicht, vor der wir uns alle so sehr fürchten. „Es gibt keine moralisch korrupte, faule Macht in uns, die uns dazu bringt, grundlos unproduktiv zu sein“, sagt der Wissenschaftler.
Dennoch liegt im Thema Produktivität der wohl größte Hebel im Kampf für eine bessere Arbeitswelt. Unstrittig wird die Zeit am Arbeitsplatz nicht immer so sinnvoll eingesetzt, wie sie könnte. Im Gesundheitswesen kostet Bürokratie per Zettelwirtschaft Zeit, die am Patienten verbracht werden sollte. Und im Büro haben wir uns eine höchst fragmentierte Arbeitsform angewöhnt von permanenten Unterbrechungen, gepaart mit sinnarmen Meetings und Machtspielen, die gerade Führungskräften Kraft und Zeit rauben. Wer kann schon von sich behaupten, seinen Arbeitstag tatsächlich um die wesentlichen Aufgaben herum zu strukturieren?
Fest steht, die Pseudo-Perfomance-Party hat ihren Höhepunkt noch lange nicht hinter sich. Viele tanzen den Dauer-Busy-Blues und laufen hektisch herum, sonnen sich in Meetings und verwechseln Geschäftigkeit mit Produktivität. Business ist nicht Busyness, aber genau das setzt sich nur sehr langsam durch. In der Wissenschaft werden diese Gewohnheiten „Skripte“ genannt. Routinen, die sich mal bewährt haben und sich auch dann noch halten, wenn sie nicht mehr sinnvoll sind – und zahlreiche falsche Entscheidungen bedingen. Die Zukunft der Arbeit kann nur gelingen, wenn Zeit neu bewertet wird. Das Beharren auf (Pseudo-)Effizienz führt zu immer mehr krankheitsbedingten Ausfällen und Demotivation. Nötig sind Widerstandskraft und Zeitpuffer, damit auch Agilität möglich ist. Und es muss klar sein, dass die Lage komplex ist.
43 Prozent der Frauen und 31 Prozent der Männer in Vollzeitjobs machen in Deutschland Überstunden – in keinem EU-Land werden mehr produziert als hierzulande. Neben dieser quantitativen Belastung nimmt auch die qualitative zu. Neue Managementmethoden setzen auf mehr Selbststeuerung und Verantwortung auf allen Hierarchiestufen. Das allein wäre nicht negativ, ginge es nicht oft einher mit immer kleinteiligerer Erfolgsmessung über digitale Technologien. Dass die Produktivität dabei nicht vorankommt, ist ein statistischer Effekt. Denn immer mehr Menschen arbeiten in Dienstleistungsbranchen, und hier ist die Produktivität geringer als in der Industrie.
Die Lösung klingt profan. Statt möglichst viele Arbeitsstunden „busy“ zu sein, sollten Arbeitgebern, wo es möglich ist, ihren Leuten erlauben, zeitlich flexibel zum erforderten Ergebnis zu kommen. Erwiesen ist, dass Teilzeitbeschäftigte produktiver handeln, eben weil sie viel weniger Zeit für eingefahrene Skripte haben.
3. Die große Müdigkeit
Dass sich die Deutschen immer häufiger ausgelaugt und gestresst fühlen, ist wissenschaftliche unbestritten. Diesen Umstand allein dem Beruf zuzuschieben, wäre aber falsch. Knapp die Hälfte der Befragten in der „Stressstudie“ der Krankenkasse TK nennen Arbeit, Studium oder Schule als Hauptursache. Das bedeutet aber auch, dass die zweite Hälfte andere Gründe hat. Sogar das Privatleben ist anstrengender geworden – allein schon durch die ständige Erreichbarkeit per Social Media. Der Umgang mit der eigenen Überlastung ist etwas, das Buchautorin Sara Weber ändern möchte und Ärzten damit aus dem Herz spricht: „Burn-out wird immer noch als Ehrenorden gesehen, den man verliehen bekommt, wenn man genug gearbeitet hat.“ Wem die These arg steil vorkommt, kann sich ja mal fragen, wie oft man im Bekannten- und Kollegenkreis von seinen Überstunden berichtet. Und ob man das mit einem Gefühl der Peinlichkeit oder des Stolzes tut.
Was wäre, wenn es ein Umdenken gäbe? Wenn man von Wohlstand redet und nicht nur Finanzielles meinen würde, sondern einen Zeitwohlstand? Hartmut Rosa hat diesen Begriff geprägt und meint damit schlicht den Zustand, wenn Menschen mehr Zeit haben, als für die Erledigung ihrer Pflichten erforderlich ist. Damit sind wohl gemerkt auch die privaten Erledigungen gemeint, inklusive Pflege oder Kinderbetreuung. Und die sind bekanntlich zwischen Frauen und Männern ungleich verteilt. Wie viele Männer berichten stolz, dass sie abends erst um 19, 20 oder 21 Uhr das Büro verlassen? Und wie wenige fahren um 17 Uhr heim, um die Frau mit den Kindern zu unterstützen und sich lieber um 21 Uhr, wenn die Kinder im Bett sind, wieder an den Rechner setzen?
Inzwischen fordern Gewerkschaften und die SPD weniger Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Ökonomen und die meisten objektiven Beobachter schütteln hier mit dem Kopf und verweisen auf die Personalnot, die schon jetzt herrscht. Hierzulande ist eine Vollzeitwoche 41 Stunden lang, woran sich in den vergangenen 30 Jahren nicht viel geändert hat. Insgesamt sind es 66 Milliarden Stunden Erwerbsarbeit pro Jahr. Klingt viel, aber vielleicht liegt der Schlüssel für mehr Wohlbefinden eher in den 89 Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit, die quasi nebenher verrichtet werden.
Zur Flexibilität gehört auch das Modell der Arbeitszeitkonten. Überstunden entstehen in der Regel nicht in den Wochen, wo es brennt und Vollzeitkräfte auch mal 50 Stunden ran müssen, sondern in den Wochen, wo 30 reichen würden, aber 40 abgesessen werden. Jahreszeitkonten erlauben Arbeitgebern und Beschäftigten die Flexibilität, die hier nötig ist. Vom Dogma der Vollzeit hält die Wissenschaft ohnehin nichts mehr. Und dass Führungskräfte gerade in größeren Organisationen sehr viel Zeit mit Machtspielen vergeuden, ist kein Geheimnis. Auch hier liegt einiges Potenzial.
4. Die Sinnlosigkeit
Menschen in Berufen, in denen man seine wahren Gefühle nicht zeigen darf, sind besonders oft von Burn-out betroffen. Das betrifft nicht nur Flugbegleiter und Flugbegleiterinnen, nach denen die Stewardessenkrankheit benannt ist, sondern vor allem Pflegekräfte, Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter, Angestellte in Supermärkten, Callcentern, Restaurants, Hotels und vielen anderen Dienstleistungsberufen. Gerade dort nahm die Arbeitsverdichtung in den vergangenen Jahren sprunghaft zu – vor allem durch den Personalmangel.
Die Arbeitsforscher Maarten Gros und Alan Manning haben die Begriffe „Lousy Jobs“ und „Lovely Jobs“ geprägt. Letztere sind in der Regel gut bezahlte Berufsbilder mit viel Kreativität und wenig Routine, die man häufig auch im Homeoffice und zeitlich flexibel verrichten kann. Am anderen Ende der Skala stehen die Lousy Jobs: eher schlecht bezahlt, eintönig und unter schwierigen Bedingungen im Hinblick auf Arbeitszeit und Arbeitsort. Oft werden diese Menschen über das Internet direkt für ihre Arbeit bewertet, was sie unter Druck setzt, praktisch alles zu tun, was Kunden von ihnen erwarten, um einer schlechten Bewertung und dem möglichen Rauswurf zu entgehen. Dazwischen liegt die große Gruppe der mittelmäßigen Jobs – und genau dieser Sorte dünnt derzeit stark aus. Die sogenannte Job-Polarisierung betrifft besonders die Industrie und damit einen Arbeitsmarkt wie den deutschen stark.
Dagegen setzen Arbeitgeber die zwei Ps: Passion und Purpose. Es mangelt seit Jahren nicht an Sonntagsreden zu Liebe und Leidenschaft – für den Job wohlgemerkt. Diese Denke war schon für Tausende der sichere Weg in den Burn-out oder die Scheidung. 2018 schrieb der US-Wirtschaftsprofessor David Graeber ein Buch über „Bullshit-Jobs“. Damit meinte er Berufe, die kaum gesellschaftlichen Nutzen bringen. Auf der einen Seite nimmt die Zahl dieser Berufe zu, auf der anderen leiden die, die sie ausführen, deutlich stärker unter psychischen Problemen wie Depressionen. Der Soziologe Simon Walo von der Universität Zürich hat kürzlich Graebers Bullshit-Job-Hypothese untersucht und bestätigt. Wobei auch hier durchkommt: Der Beruf allein ist es selten, der uns krank macht. Oft fehlt auch soziale Unterstützung.
Untersuchungen zeigen, dass immer mehr Menschen ihren Beruf sinnlos finden. Das mag auch daran liegen, dass die Ansprüche gestiegen sind oder früher nicht so dezidiert danach gefragt wurde. In Privatunternehmen ist das Gefühl stärker verbreitet als bei Non-Profit-Organisationen oder im öffentlichen Dienst. Menschen im Verkauf, im Finanzsektor und generell Führungskräfte sind überproportional vertreten, Beschäftigte im Gesundheitswesen, im Baugewerbe oder rund um Bildung und Erziehung seltener. Ganz wichtig ist nach Aussage der Wissenschaftler die Frage: Ist die Tätigkeit an sich sinnlos? Oder ist der an sich sinnvolle Job durch schwierige Rahmenbedingungen so gestaltet, dass er als sinnlos wahrgenommenen wird? Ein Beispiel für Letzteres sind Krankenhausmitarbeiter, die vor lauter Papierkram kaum noch Zeit für ihre Patienten haben und deshalb kündigen.
Eine weitere Lehre aus der Studie ist, dass es Arbeitgebern durchaus gelingen kann, vermeintlich nutzlose Aufgaben in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Ein Beispiel ist das berühmte Bonmot vom Hausmeister der US-Raumfahrtbehörde Nasa, der auf die Frage eines US-Präsidenten, was er denn hier tue, antwortete: „Ich helfe dabei, Menschen zum Mond zu bringen“. Darauf zu warten, dass KI und Roboter die unangenehmen Tätigkeiten übernehmen, ist auf jeden Fall der falsche Weg.
5. Der Transformationsdruck
Künstliche Intelligenz und andere Formen der Digitalisierung sind ein wesentlicher Teil des Arbeitslebens, auch weil diese Technologien den Wandel kräftig beschleunigen. Wie wäre die industrielle Revolution wohl gelaufen, wenn Königin Elisabeth I. im 16. Jahrhundert dabei geblieben wäre, das Patent des Webstuhls abzulehnen? Sie hatte Angst um die Jobs der Strümpfestricker. Am Ende ging sie mit der Zeit und Großbritannien schritt weltweit voran.
Ob technologischer Fortschritt in den vergangenen 1000 Jahren wirklich dafür sorgte, dass die Menschen ein schöneres Leben hatten, ist spätestens seit den Büchern von Yuval Noah Harari höchst umstritten. Einen bahnbrechenden Beitrag zu diesem Streit haben Daron Acemoglu und Simon Johnson geliefert, beide forschen am MIT in den USA. Johnson war zudem Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds. In ihrem Opus magnum „Macht und Fortschritt“ legen sie eindrucksvoll dar, dass es Produktivitätsfortschritte durch Technologie nie automatisch gab. Sie entfalten nur unter bestimmten Bedingungen einen Sog für die arbeitenden Menschen. Immer wieder kam Technologie in der Wirtschaftsgeschichte nur wenigen Reichen zugute. Und heute deutet im Hinblick auf die kommende große Welle rund um künstliche Intelligenz wenig darauf hin, dass die Breite der Bevölkerung schnell davon profitiert.
Das spüren die Menschen genau wie die Tatsache, dass sich überhaupt sehr viel gleichzeitig verändert. Philosophen und Soziologen beobachten mit stark steigender Tendenz das, was bereits Ernst Bloch einst mit „Nicht alle sind im selben Jetzt da“ meinte. Seit der Industrialisierung sind Menschen gerade im Hinblick auf ihre Arbeit vom Fortschritt verunsichert, aber die dramatische Zunahme des Wandels in den vergangenen Jahren geht an der Gesellschaft nicht vorbei. Der Hype um generative künstliche Intelligenz mit all ihren Möglichkeiten, aber eben auch mit Bedrohungspotenzial für Millionen Berufsbilder, beschäftigt viele. Und die, die arbeiten, gehören grob gesagt zu zwei Gruppen: die, die sich permanent wandeln, daran Freude haben und von ihrem Transformationswillen profitieren. Und denen, die sich sehr schwer damit tun, dass kaum etwas so bleibt, wie es ist. Die Abwehrreflexe begründen sich auch im vermeintlichen Widerspruch des Gestaltens. So mancher sagt laut oder leise: „Ich gestalte den ganzen Tag etwas, warum muss ich jetzt auch noch die Zukunft gestalten?“
6. Die überforderten Chefs
Die weltweit bekannteste Forschungsumfrage für die Art, wie wir arbeiten, ist die von Gallup, einem der führenden Markt- und Meinungsforschungsinstitute aus Washington. Pa Sinyan leitet für Gallup das Geschäft in Europa, dem Nahen Osten und Afrika. Einer seiner griffigsten Thesen lautet: „Zeige mir deinen Vorgesetzten, und ich sage dir, wie dein Leben ist.“ Anders formuliert: „Happy wife, happy life“ trifft es weniger als die Formel „Ist der Chef nett, komm ich gut aus dem Bett“. Führung ist Gallup-Umfragen weltweit zufolge der wichtigste Hebel dafür, ob jemand entscheidet, zu gehen oder zu bleiben. Daran gemessen gehören die deutschen Führungskräfte offenbar zu den schlechtesten. In kaum einem anderen Land sind die Beschäftigten unzufriedener mit ihren Vorgesetzten.
Doch es gibt eben auch die, die sich verändern wollen – und deren Zahl wächst. Dass sich immer mehr Menschen beruflich umorientieren, zeigen zum Beispiel die Daten des „Branchenwechselradars“ des IAB und der Karriereplattform LinkedIn. LinkedIn erkennt, dass seine Nutzer verstärkt ihre Profile für die Jobsuche aufpolieren. 2023 wurden doppelt so viele Fähigkeiten der digitalen Bewerbungsmappe hinzugefügt wie im Vorjahreszeitraum. Vier von zehn Befragten prüfen einen Wechsel des Arbeitgebers in den kommenden Monaten oder sind konkret auf der Suche. Und immer mehr bewerben sich auf Stellen in einer anderen Branche als die, in der sie bisher tätig sind.
Die Gründe sind vielfältig und unterscheiden sich je nach Umfrage zum Teil nennenswert. Zwei Muster aber gibt es praktisch überall: Der Personalmangel führt dazu, dass die Belastung immer stärker steigt. Und die Vorgesetzten handeln nicht so, wie sich das die Beschäftigten vorstellen. Damit ist explizit nicht nur die Unternehmensführung gemeint, sondern grundsätzlich auch jene gut drei Millionen Entscheider, die nicht gleich die ganze Firma steuern, sondern mindestens fünf Personen leiten. Die sind mit operativen Tätigkeiten inklusive Krisenbewältigung so vollgepackt, dass sie allem Anschein nach zu wenig Zeit für Ihre Leute haben.
Volkswirtschaftlich betrachtet ist es gut, wenn der Arbeitsmarkt mobiler wird. Kaum etwas hemmt die Produktivität mehr, als wenn zu viele Menschen in Jobs arbeiten, die ihnen keinen Spaß machen und wo sie ihre Fähigkeiten nicht möglichst gut einbringen können. Und gerade in Deutschland ist das häufig der Fall. Durch den rigiden Arbeitsmarkt gibt es deutlich weniger Fluktuation als in anderen Ländern. Einige Branchen profitieren von der steigenden Wechselbereitschaft überproportional, was aber auch heißt, dass andere leiden.
Mit Gesundheits- und Bildungsberufen erwischt es ausgerechnet zwei Wirtschaftszweige, die für das Funktionieren der Gesellschaft besonders wichtig sind. Zwischen August 2022 und August 2023 sind hier IAB und LinkedIn zufolge die meisten Arbeitskräfte gegangen. Die Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen in Schulen, Kitas, Kliniken und Pflegeheimen sei besonders hoch, heißt es. Die Beratung PwC hat im deutschen Gesundheitswesen knapp 300.000 unbesetzte Stellen ermittelt. 2035 sollen es 1,8 Millionen sein. Im Bildungssektor sieht es kaum besser aus. Der Verband Bildung und Erziehung schätzt, dass sich der Bedarf an Lehrkräften bis 2030 auf 158.000 erhöhen wird.
7. Kampf der Generationen
Zweifellos lastet zu viel auf der Altersgruppe Mitte 30 bis Ende 40. Sie müssen zudem die Kulturunterschiede zwischen den Jungen und Älteren überbrücken. Die gab es schon immer, sind aber nach Umfragen derzeit besonders hoch. Dabei werden die Potenziale hier bei weitem nicht so genutzt, wie es der Arbeitsmarkt braucht. Ein Ansatz wäre es, ältere Menschen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren und sie dadurch länger im Berufsleben zu halten. Mit Zwang geht das nicht, aber dass positive Anreize wirken, hat sich gezeigt. Helfen würde es, Anreize für Frühverrentung zu stoppen und es denen, die über 67 sind und noch arbeiten wollen, möglichst leicht zu machen. Natürlich muss sich das auch lohnen.
Deutlich komplizierter ist es bei der Generation Z und dem jüngeren Teil der Generation Y. Die Zahl der jungen Menschen, die einen Ausbildungsplatz antreten, verharrt seit dem Ausbruch der Corona-Krise auf deutlich unter 500.000, was das Statistische Bundesamt als „historisch schlecht“ bezeichnet. Hier auf die vermeintliche Überakademisierung zu schimpfen, führt in die falsche Richtung. Die Quote der Abiturienten, die eine duale oder schulische Ausbildung beginnen, stieg 2011 von 35 Prozent auf 47,4 Prozent 2021, wie die Bertelsmann Stiftung errechnete. Die sieht den Grund für die geringe Zahl an abgeschlossenen Ausbildungen darin, dass Jugendliche mit geringer Schuldbildung „immer schlechtere Chancen“ hätten und „ins Abseits gerieten“. Tatsächlich sank die Zahl der Hauptschulabsolventen, die eine Berufsausbildung beginnen, zwischen 2011 und 2021 um rund 20 Prozent.
Ein weiteres Problem: Wer im Herbst 2023 mit Vertreterinnen und Vertretern der IHK spricht, hört immer wieder Sätze wie „Wir fallen hinten rüber angesichts der Abbrecherquoten“. Konkrete Zahlen gibt es dazu noch nicht, aber das Problem betrifft nicht nur die Azubis. Der Bertelsmann Stiftung zufolge stecken 630.000 junge Menschen im Übergang von der Schulzeit ins Berufsleben fest. Über ein, zwei Jahre, manchmal noch länger machen sie nichts – keine Arbeit, kein Studium. Diese Gruppe heißt im Fachjargon Neets. Die Abkürzung steht für „Not in Education, Employment or Training“. In vielen Befragungen tauchen sie nicht auf, dabei handelt es sich ungefähr um ein Drittel der Generation Z.
Das Rheingold-Institut hat diese Menschen mit hohem Aufwand näher untersucht und herausgefunden, dass es sich keineswegs nur um junge Leute aus Randgruppen handelt. Das Phänomen zieht sich quer durch die Gesellschaft. Frei nach dem Motto: Ein Teil kann nicht, andere wollen nicht. Rheingold fand verschiedene Vermeidungsstrategien, mit denen die Jugendlichen ihre Antriebslosigkeit bewusst oder unbewusst begründeten: Trauma-, Loser-, Chef- und Wohlfühl-Typen. Je nachdem muss man sie unterschiedlich aktivieren. Der Cheftyp zum Beispiel leidet unter Größenfantasie und will gleich auf hoher Hierarchiestufe in den Arbeitsmarkt eintreten. Anordnungen von anderen anzunehmen, ist für diese Gruppe sehr schwer. Der Wohlfühl-Typ braucht oft nur einen Stupser und läuft dann los.
Es gibt also viele Gründe, sich über den deutschen Arbeitsmarkt langfristig Sorgen zu machen. Doch auch die nahen Aussichten zermürben. „Zum Jahreswechsel erwartet die mittelständische Wirtschaft eine Kündigungswelle von Fach- und Führungskräften, auf die sie überwiegend völlig unvorbereitet ist“, prognostiziert Harald Schönfeld, Geschäftsführer der Personalberatung Butterflymanager. Seine Begründung: Fachleute und Manager könnten sich angesichts von 1,7 Millionen qualifizierten unbesetzten Stellen in Deutschland ihren Arbeitgeber frei aussuchen. „Viele wählen den Jahreswechsel, um beruflich einen Neuanfang zu starten. Die verlassene Firma steht dann häufig wie ein begossener Pudel da“, sagt Schönfeld.
Und wo man endet, wenn der Faktor Mensch unterschätzt wird, hat ausgerechnet Elon Musk in Deutschland kennengelernt. Der Digital-Utopist wollte in seinem Tesla-Werk in Grünheide fast alle Bestandteile der Produktion automatisieren – und fuhr damit gepflegt an die Wand. Es kam zu Verzögerung, die Kosten stiegen immer weiter. Am Ende sagte Musk in einem seltenen Anfall von Kleinmut: „Ja, die exzessive Automatisierung bei Tesla war ein Fehler. Der Mensch wird unterschätzt.“